Schon beim ersten Kontakt mit Bloggerin und Autorin Jasmin Schindler weiß ich: Das wird keines dieser Klartext-Interviews, die es uns Journalist*innen besonders leicht machen. Denn Jasmin und ich sind hochsensibel. So wie wahrscheinlich jede*r Fünfte. Ich schreibe "wahrscheinlich", weil Hochsensibilität wissenschaftlich noch nicht eindeutig belegt ist. Was vielleicht auch daran liegt, dass dieses Persönlichkeitsmerkmal viele Gesichter hat. Es ist zwar nur ein Wesenszug und als solcher stark beeinflusst durch individuelle Prägungen und Erfahrungen, aber einer, der sich auf fast alle Lebensbereiche auswirkt.

Auf Erfahrungen basiert darum auch dieser Artikel. Denn die*den typische*n Hochsensible*n gibt es nicht. Doch seit Jasmin ihre Hochsensibilität vor rund vier Jahren entdeckt hat, steht sie im Austausch mit anderen HSPs (High Sensitive Persons) und merkt: Es gibt Eigenheiten, die viele teilen. Darüber schreibt sie auf ihrem Blog Healthy Habits und in ihrem Buch, für das sie im deutsch- und englischsprachigen Raum recherchiert hat. Und die Resonanz der Leser*innen ist groß. Ebenso die Dankbarkeit. Viele quälen sich mit der Frage, ob mit ihnen etwas nicht stimmt, weil sie anders wahrnehmen, anders empfinden. "Zu erfahren, dass sie hochsensibel und damit nicht allein sind, erleichtert viele", sagt Jasmin, die ungern Ratschläge erteilt, sondern lieber aus ihrem Alltag und dem anderer HSPs erzählt.

Es ist ihr wichtig, dass das Thema noch mehr Aufmerksamkeit erfährt. Gerade in einer Gesellschaft, die vor allem die Extrovertierten, Lauten und vermeintlich Unverwundbaren beklatscht, fühlen sich die Leiseren, Zartbesaiteten oft fehl am Platz oder sehen ihre Feinfühligkeit sogar als Schwäche.

Singles auf dem Drahtseil

Hochsensible gelten als anspruchsvoll. Die meisten haben ein starkes Moral- und Werteempfinden und suchen bei ihrer*m Partner*in unter anderem nach Treue, Verlässlichkeit, Authentizität, Integrität, Empathie und einer ähnlichen Weltanschauung. Zwar fühlen auch sie sich kurzzeitig von Gegensätzen angezogen; Ein Großteil sehnt sich aber nach einer dauerhaften, tiefen Beziehung, die aussichtsreicher wird, wenn beide auf einer Frequenz funken. Genau das gilt es beim Kennenlernen herauszufinden. Dazu müssen HSPs nicht mit der Tür ins Haus fallen: "Statt Hochsensibilität als solche zu thematisieren, würde ich eher einzelne Aspekte wie zum Beispiel das Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug in Gespräche einfließen lassen und auf die Reaktion achten", so Jasmin.

Bereits die Kennenlernphase ist für viele HSPs ein Drahtseilakt. Haben sie erst einmal Feuer gefangen, fällt es vielen schwer, bei sich zu bleiben. Nicht selten zeigen sie ein so großes Interesse an ihrem Gegenüber, dass sie binnen kürzester Zeit viel mehr über sie*ihn wissen als umgekehrt. So entwickeln sie schnell eine tiefe emotionale Verbundenheit und ignorieren auch gern ein alarmierendes Bauchgefühl. "Wenn dann noch das Helfersyndrom, also die Überzeugung 'Ich rette Dich' dazu kommt, ist es schwer, wieder auszusteigen", weiß die Leipzigerin aus eigener Erfahrung.

Hochsensible ticken anders

Für Hochsensible ist es darum geradezu existenziell, sich und die eigenen Bedürfnisse zu kennen und für sie einzustehen. Manche wissen darüber aber kaum Bescheid und überfordern sich ständig selbst. "Ob HSP oder nicht: Es liegt in der eigenen Verantwortung, gut für sich zu sorgen. Das kann und sollte nicht die Aufgabe des*der Partner*in sein", sagt Jasmin.

Darum ist das Reden über die eigenen Grenzen und die damit verbundene Lebensgestaltung wichtig. Denn umso näher Hochsensible einen Menschen an sich heranlassen, umso deutlicher zeigt sich, dass sie ein wenig anders ticken. Im Kleinen wie im Großen. Da sie Reize aus ihrer Umwelt ungefiltert und somit viel stärker wahrnehmen, sind viele beispielsweise lärm- und geräuschempfindlich. Laute Musik, lebhafter Besuch, Verkehrslärm oder so etwas Banales wie Essgeräusche können so auf Dauer zur Zerreißprobe werden.

Idealerweise betreiben Hochsensible eine Art Energiemanagement, indem sie unter anderem Termine so planen, dass ihnen genug Zeit zum Durchatmen bleibt.

Zudem haben sie oft ein höheres Ruhebedürfnis, ziehen sich abends lieber mit einem Buch zurück, als sich ins Nachtleben zu stürzen. Permanenter Input führt bei vielen zur Überreizung, in Folge derer sie wesentlich mehr Zeit zur Regeneration benötigen als Normal-Sensible. "Es ist wichtig, das dem*der Partner*in zu erklären, damit er*sie dieses Verhalten nicht auf sich bezieht", so die 30-Jährige. Idealerweise betreiben Hochsensible eine Art Energiemanagement, indem sie unter anderem Termine so planen, dass ihnen genug Zeit zum Durchatmen bleibt. Dann können sie sich auch mit voller Energie ihren Beziehungen widmen.

Beziehungen mit HSPs: nicht leicht, aber tief

Die meisten Hochsensiblen haben hohe Erwartungen, aber auch viel zu bieten: Ihre Aufmerksamkeit und Empathie machen sie zu exzellenten Zuhörer*innen und Berater*innen, weil sie sich gut in andere hineinversetzen und deren Gefühle nachempfinden können. Gern verlassen sie die Oberfläche und tauchen ab in tiefe Gespräche und Gefühle. Und ihre sensiblen Antennen verleihen ihnen ein außerordentlich feines Gespür für Stimmungen, mit dem sie so manche Befindlichkeit ihres*r Freund*in erahnen, bevor er*sie sie überhaupt thematisiert hat.

Doch wie so oft im Leben haben auch diese positiven Eigenschaften eine Kehrseite: Viele HPSs haben Probleme damit, sich von den Erwartungen und Bedürfnissen anderer abzugrenzen. Auch Jasmin fiel es früher schwer, Nein zu sagen und auch mal an sich zu denken: "Viele neigen dazu, die an sie gestellten Erwartungen geradezu übererfüllen zu wollen und meinen, dass sie die Wünsche anderer tatsächlich riechen können." Anstatt zu fragen, was andere wirklich wollen, übernehme dann oft ein, wie sie es nennt, vorauseilender Gehorsam das Kommando, was nicht selten zu Missverständnissen führt.

HSPs mit einem hohen Anpassungswillen hält es mitunter auch länger in Beziehungen, als es ihnen guttut. Die tiefe Bindung zum*zur Partner*in veranlasst sie dazu, eine Trennung lange Zeit immer wieder zu überdenken, alle Pros und Contras abzuwägen und selbst bei einem klaren Ergebnis noch zu zögern, weil sie den Schmerz der*des Verlassenen mitdurchleben.

Auf Dauerfahrt im Gedankenkarussell

Das hat nicht nur mit dem eigenen Selbstwert zu tun, sondern auch mit dem bei vielen ausgeprägten Reflexionsvermögen und dem Blick für Details und Unstimmigkeiten – zum Beispiel einem (scheinbaren) Widerspruch zwischen Gesagtem und Körpersprache oder Tonfall. Hochsensible denken gern ausgiebig über alles nach. Manchmal zu viel. "Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir etwas so lange zerdenken und zerreden, dass wir am Ende Probleme schaffen, die vorher nicht da waren und der Beziehung so die Leichtigkeit nehmen", erklärt Jasmin. Das Gedankenkarussell, mit dem viele HSPs ständig zu kämpfen haben, hat sie mit Meditation und Achtsamkeitsübungen in den Griff bekommen. So fällt es ihr leichter, mit ihren Empfindungen und ihrem Körper in Kontakt zu kommen und wieder mehr zu fühlen als zu grübeln.

Jasmin hält Beziehungen, in denen beide hochsensibel sind, tendenziell für einfacher, weil beide ähnliche Bedürfnisse und somit auch mehr Verständnis füreinander haben dürften. "Das kann aber auch dazu führen, dass sie es sich in ihrer meist recht schmalen Komfortzone etwas zu gemütlich machen." Partnerschaften zwischen HSPs und Nicht-HSPs können darum sehr bereichernd sein, zum Beispiel durch die Impulse der*des Normal-Sensiblen.

Gemeinsame Werte, Achtsamkeit, Toleranz, offene Kommunikation und ein stabiler Selbstwert sind für Jasmin gute Voraussetzungen für eine harmonische Beziehung, egal in welcher Konstellation. "Wir Hochsensiblen können von Normal-Sensiblen nicht erwarten, dass sie uns alles recht machen. Für unser Glück sind wir schon selbst verantwortlich."

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