Normalerweise werden Graffiti auf Zügen sofort von Bahnreiniger*innen entfernt. Aber in der kalten Jahreszeit haben die Sprayer einen klaren Vorteil.

Blick nach rechts, Blick nach links. Moritz, der eigentlich anders heißt, scannt die Lage. Auf seinem Kopf ist eine Kamera geschnallt. Er sitzt im Gebüsch und wartet. "High Voltage" steht am Zaun des Bahndepots, den er gleich überwinden will. Und "Danger".

Jede Stunde kommt hier ein Wächter vorbei. Dann ist es wieder ruhig auf dem Gelände. Moritz krabbelt zum Zaun, schiebt Laub und Steine zur Seite. Am Vortag hatte er eine Kuhle gegraben. Jetzt noch einmal ein Blick rechts, einer nach links. Die Luft ist rein. Moritz robbt durch das Matschloch. Er darf nichts berühren; hier gibt es Bewegungssensoren, die direkt Alarm auslösen. Moritz schafft es.

In gebückter Haltung rennt er auf die Züge zu. Wieder Blick rechts, links, unter den Zügen durch. Nichts zu sehen. Es kann losgehen. Zischend sprüht die Farbe aus der Dose. Moritz weiß, dass die Bahn niemals mit seinem Graffito fahren wird. Deshalb dokumentiert das alles mit der Kamera.

Acht Millionen Euro Schaden

Moritz blickt von seinem Laptop auf. Die Matschlochaktion, die noch gerade über den Bildschirm flimmerte, liegt inzwischen Wochen zurück. Heute sitzt er in einem Café und klickt sich durch die unzähligen Ordner auf seinem Desktop. Er erinnert sich daran, wie alles angefangen hat. Damals, vor zehn Jahren. Wie er seinen ersten Zug besprühte. Wie er zum Mitglied der Radicals, einer der größten Graffiti-Gruppen Leipzigs, wurde. Er ist stolz auf seine Fotos und Videos. Sie halten fest, was schon wenige Stunden später Bahnreiniger*innen wieder von der Bahn gewischt haben.

Acht Millionen Euro Schaden richteten Sprayer im Jahr 2015 auf Zügen der Deutschen Bahn an. Grundsätzlich versucht die Deutsche Bahn, Graffiti innerhalb von 24 bis 72 Stunden von ihren Zügen zu entfernen. Doch in den vergangenen zwei Monaten war eine schnelle Reinigung nicht so leicht möglich. "Die Entfernungsmittel können erst ab fünf Grad Außentemperatur ihre volle Wirkkraft entfalten", sagt Jörg Bönisch, ein Sprecher der Deutschen Bahn. Bedingt durch die kalte Jahreszeit sei das Graffiti-Aufkommen auf Zügen in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Besonders rund um die Stadt Leipzig sei es auf S-Bahnen zu einer regelrechten Graffiti-Welle gekommen. Leipzig gilt als Graffiti-Hochburg in Deutschland.

Die Leipziger Verkehrsbetriebe kennen das Katz-und-Maus-Spiel mit den Sprayern. Seit fünf Jahren fährt das Unternehmen deshalb eine Null-Toleranz-Politik: Besprühte Trams werden sofort aus dem Verkehr gezogen. Um das zu leisten, mussten die Betriebe ein Abo mit einer Reinigungsfirma abschließen. Hier arbeitet das Personal in Schichten und das rund um die Uhr.

Einer der fünf Graffiti-Reinigungskräfte ist Lou. Er trägt eine Brille und läuft mit ernstem Blick durch die Welt. Wenn Lou von der Reinigung erzählt, klingt es so, als ob er ein auswendig gelerntes Rezept vorliest: Zuerst schießt er ein Foto von dem bemalten Waggon für die Polizei. Dann trägt er mit Sprühflaschen die Lösungsliquide auf, die der hauseigene Chemiker zusammengemischt hat. Dann wartet er. Dann wählt einen besonders kratzigen Schwamm aus, beginnt zu schrubben. Nimmt einen etwas weicheren Schwamm, schrubbt weiter. Abschließend nimmt er ein Tuch aus Fleece und poliert. Manchmal dauert das Prozedere einen ganzen Tag lang.

Ich schaffe mit meinem Hobby Arbeitsplätze – Moritz, der Sprayer

Im Jahr 2015 hat die Deutsche Bahn deutschlandweit über 16.000 Graffiti auf ihren Zügen dokumentiert – 300 Sprayer wurden erwischt. Dass die Leute wütend sind, wenn jemand Hauswände besprüht, versteht Moritz, "aber im Zug müssen sie ja nicht wohnen." Außerdem mache er die Bahn auch nicht fahruntüchtig: "Ich schaffe mit meinem Hobby sogar Arbeitsplätze." Es sind Arbeitsplätze, die die Leipziger Verkehrsbetriebe 30,47 Euro pro Stunde kosten.

Auf Züge sprühen dürfen nicht alle

Wenn Sprayer in flagranti erwischt werden, wird es teuer. Pepe, der eigentlich auch anders heißt, weiß das. Schon oft musste er hunderte Euro Strafgeld bezahlen. Eine Zeit lang wurde er observiert. Die Polizei wollte damals seine Mitgliedschaft in der ORG-Crew – den Kontrahenten der Radicals – nachweisen. Pepe war tatsächlich Mitglied. Heute, mit 28, ist er es nicht mehr. Bahnen besprüht er aber trotzdem noch: "Man checkt den Fahrplan, macht die Endhaltestellen ausfindig, beobachtet die Abstellgleise und dann schlägt man gemeinsam zu." Pepe sagt von sich, er sei ein Sammler. Er jagt Bahnmodelle, setzt auf sie sozusagen seinen Stempel. Die Schadensansprüche dafür kann die Deutsche Bahn noch die nächsten 30 Jahren einfordern.

"Bahnen sind nichts für Anfänger", sagt Sebastian Mann. Er ist Eigentümer des Graffiti-Ladens Mad Flava Ink. und kennt die Sprayer der Stadt. Es sei ein exklusiver Kreis, der Züge besprüht. Fame, Erfolg, Ansehen – das sei es, worum es den Trainwritern geht. Sebastian sagt, auf Züge sprühen, das dürfe nicht jeder, denn in der Szene gebe es eine klare Hierarchie.

"Das sind keine Jungs, die vom Papa aus der Garage den Felgensprayer geklaut haben", sagt Sascha Kittel. Er ist Gründer des Graffitivereins und Leiter der Koordinierungsstelle Graffiti der Stadt Leipzig, die an den kommunalen Präventionsrat angedockt ist. Früher war er selbst als Sprayer aktiv. Heute sieht er sich als "Graffitidino", obwohl er eher einem Bären ähnelt – groß und mit tiefer Stimme. Sascha sagt, die Bahnen seien so etwas wie die Mutter aller Graffitimedien. Alles habe in den 1970ern in New York angefangen. Durch die Reinigungsteams sei das Trainwriting zunächst abgeflaut, aber durch Social Media entstehe eine neue Plattform.

Moritz etwa hat auf Instagram fast 4.500 Follower. Hier präsentiert er alle seine Aktionen. Der 23-Jährige bezeichnet das Sprühen selbst als Egoding und lacht dabei wie ein Junge, der etwas Freches gesagt hat. Er weiß, dass er eigentlich etwas Verbotenes tut, doch der Geltungsdrang siegt. Immer.

Ein bisschen wie Schachspielen

Ein Rollwagen bollert am Tisch im Café vorbei; es klingt fast, als fahre ein Zug. Moritz verfällt in Starre. Automatismus, nennt er das. Routine, könnte man auch sagen. Moritz Ziel ist es, alle U-Bahn-Systeme der Welt zu besprühen. Europa, Australien, den Kaukasus und Südostasien hat er bereits abgeklappert. Genau wissen, was man tut, das sei, worauf es immer ankomme.

Er zeigt wieder auf den Laptop-Bildschirm. "Da sitzt der Wächter eigentlich immer." Jetzt ist der Platz leer. In diesem Video liegt Moritz flach auf dem Boden, eine Plastikeinkaufstüte mit Dosen zwischen den Zähnen. Dann klettert er über den Zaun. Er zeichnet die Umrisse des Gruppenkürzels auf eine Bahn. Schwarz, blau, orange, pink, weiß. Zehn Minuten später, Moritz ist fast fertig, da passiert es. Eine Männerstimme schreit im Hintergrund. Der Wächter. Der Moritz vor dem Laptop lehnt sich zurück und grinst. Der Moritz im Video lässt die Dose weiter Feinheiten auf die Bahn fauchen. Wild mit den Händen gestikulierend und laut schimpfend, rennt der Wächter auf Moritz zu und will ihn packen. Im Video sieht man jetzt nur noch wacklig den Boden und Moritz' Schuhe. Er rennt weg.

"Das sind nicht meine Feinde, aber wir sind deren", sagt Reiniger Lou. Oft ist er nachts unterwegs. "Es gibt welche, die bewachen ihre Graffiti." Lou wurde schon mit Bierflaschen beworfen. Einmal sogar mit einem Messer bedroht. Deshalb steht in diesem Text auch nur sein Spitzname. Über seinem Kopf, im Aufenthaltsraum des Tramgeländes, hängt ein Schild aus DDR-Zeiten: "Friedliche Zusammenarbeit stärkt das Kollektiv."

Lou ist kein ängstlicher Mann. Ein bisschen schüchtern vielleicht für seine 37 Jahre, aber unter der gelben Warnjacke, die er trägt, hat er ein dickes Fell. Er erzählt auch, dass nicht alle Sprayer gewaltbereit seien. Einmal, da habe die Polizei einen 65-Jährigen auf dem Tramgelände gefasst. Der Graffiti-Opa, wie er ihn nennt, sei sein Leben lang mit seinem Rollwagen voller Sprühdosen in Leipzig unterwegs gewesen.

Lou reibt seine Hände aneinander. Jetzt, wo es kalt ist, ist seine Arbeit mühsam und die Sprayer sind klar im Vorteil. Als Kampf um die Bahn will Lou seine Arbeit aber nicht bezeichnen. Er erfülle nur seine Aufgabe.

Es ist wie beim Schachspielen: Lou reinigt, dann machen die Sprayer den nächsten Zug. Pepe geht es ums Sammeln. Moritz ums Ego. Beiden geht es ums Abenteuer. Einfach um den nächsten Zug.

Dieser Artikel ist im Rahmen eines Rechercheseminars des Journalistik-Studiengangs in Leipzig entstanden. An der Recherche haben mitgewirkt: Hanna Gerwig, Tobias Kisling und Pia Siemer.