Über meine Gefühle rede ich von Mittwoch bis Freitag zwischen acht Uhr und neun Uhr. Nicht mit einem Tagebuch oder besten Freund – sondern mit meinem Therapeuten. Vor einem halben Jahr habe ich eine Psychoanalyse angefangen. Drei Stunden die Woche auf einer Couch in Berlin-Mitte. Für mindestens zwei Jahre.

So sehr habe ich mich noch nie an jemanden gebunden – und das Ganze kam auch nicht von ungefähr. Ein paar Monate zuvor arbeitete ich noch als Freiwilliger in Kapstadt, Südafrika. Es liefen die letzten Monate meines gap years und das nächste Abenteuer wartete schon: ein Psychologie-Studium in Schottland.

Dabei war ich gerade komplett überfordert: Zwei Monate zuvor hatte ich meine erste Beziehung mit einem Jungen beendet. Ich war überwältigt davon, wie sehr mir die Erfahrung mit ihm gefallen hatte und hatte Angst davor, wie sehr es mich veränderte. Kurz danach hatte ich mich in ein Mädchen verliebt, doch zweifelte ich manchmal, ob unser Zusammensein das Richtige für mich war. Gleichzeitig machte es mich traurig, dass wir uns in ein paar Wochen trennen mussten. Was ich danach studieren wollte, wusste ich auch nicht. Und das alles noch rund 9.500 Kilometer von zu Hause weg.

Diese Konflikte nagten an mir; ich traute mich nicht, offen mit jemandem darüber zur reden. Stattdessen dachte ich: Das ziehe ich alleine durch. Immer öfter war ich dann völlig erschöpft. Meine Gedanken kreisten nur um diese Probleme. Meistens wollte ich einfach meine Augen schließen und schlafen. Als mein Vater, der selbst Psychotherapeut ist, zu Besuch kam, stellte er dann die Diagnose: Ich hatte eine depressive Episode.

Du bist nicht allein

Das Studium in Schottland sagte ich danach ab – ich brauchte keine neue Herausforderung, sondern ein sicheres Zuhause. Und mittlerweile weiß ich, dass ich nicht der Einzige bin, der Unterstützung benötigt. Nach Informationen der Bundespsychotherapeutenkammer ist zwischen 2004 und 2014 die Anzahl an Patient*innen in psychotherapeutischer Behandlung in Deutschland um 50 Prozent gestiegen.

Auch die 24-jährige Studentin Layla suchte sich vor anderthalb Jahren professionelle Hilfe. Sie verzweifelte an dem Gefühl, nicht genug Liebe von ihrem Freund zu bekommen. Am Anfang hatte Layla noch gedacht, dass sie keine Hilfe braucht. Sie befürchtete auch, dass Therapeut*innen einfach nur "viel über Kindheit reden und alles auf Sex zurückführen." Die erste Sitzung war dann aber gleich "ziemlich geil".

"Ich war voll unter Druck, habe irgendwie mega geheult und die ganze Zeit nur erzählt und erzählt." Die 24 Sitzungen danach halfen ihr, weiter Druck abzulassen und sich zu ordnen. "Ich lernte auch, dass Situationen mit ähnlichen Mustern immer wiederkommen. Dann merkt man eigentlich so: Was ist jetzt wirklich das Problem?"

Model und Schauspielerin Annika, 20 Jahre alt, schätzt ihre Therapie aus ähnlichen Gründen: "Ich muss nicht darauf achten, ob ich jemanden verletze mit dem, was ich sage", erklärt sie. Ursprünglich ging sie zu ihrer Psychologin, um eine Körperreise zu machen – eine Art der Hypnose, die gegen ihre Hautprobleme helfen sollte. "Wir haben dann aber schnell gemerkt, dass eine ziemlich starke Traurigkeit in mir drinsteckt, besonders in Bezug auf meine Mutter und meinen Bruder", erinnert sie sich.

Die Psychologin schlug ihr daraufhin eine Gesprächstherapie vor. Dort hat Annika die Möglichkeit, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. "Ich glaube, ich bin auf eine sehr emotional abgekoppelte Art aufgewachsen", sagt sie. "Gerade realisiere ich aber auch, dass der Fehler dafür nicht bei mir liegt." Auch für sie war es zu Beginn schwer, sich "diese Hilflosigkeit des zur-Therapie-Gehens" einzugestehen. Eigentlich ist Annika lieber die Starke; die, die andere unterstützt.

Therapie – ein Tabuthema?

Der 22-jährige angehende Erzieher Joshi ging mit 15 für ein Jahr zum Psychologen. Es waren gerade seine beiden Großväter gestorben und er hatte Probleme mit seinen Eltern. In der Zeit danach hat er seine eigene Art gefunden, mit dem Thema Therapie umzugehen. "Ich bin sehr offen, was das angeht, weil ich mich nicht dafür schäme. Ich habe für mich verstanden, dass es Mut erfordert, nach Hilfe zu fragen und diese anzunehmen. Das ist eigentlich ein Zeichen von Stärke."

In der Arbeitswelt ist das Thema für ihn aber tabu. "Ich kann mir vorstellen, dass ich das in meinem Beruf nicht erzählen würde, weil man sich diese Kollegen eben auch nicht wie Freunde aussucht. Und wenn man Therapie gemacht hat, kann man manche Stellen vergessen", sagt er. "Bei der Arbeit darfst du ja keine Schwäche zeigen", kritisiert auch Annika. "Wir gehen zwar zum Zahnarzt, das ist total normal und putzen uns jeden Tag die Zähne. Aber es ist nicht normal, unsere Seele zu reinigen."

Anfangs hatte auch ich Angst, von meiner Therapie zu erzählen. "Was, wenn die anderen mich komisch finden? Was, wenn die mich für den Job dann nicht nehmen?" Zwischen Uni, Arbeit und Selbstverwirklichung sah ich oft keinen Platz für Unsicherheit und Traurigsein.

Denken und reden – ohne Druck

Irgendwann wollte ich aber nicht mehr so tun, als wäre alles okay. Ich erzählte immer mehr Menschen von meiner Therapie – und auf einmal öffneten sie sich mir gegenüber. Viele berichteten von eigenen Problemen; einige fragten, wie sie selbst an Beratung kommen könnten.

Ein halbes Jahr bei meinem Therapeuten hat mir gezeigt, dass es einen sicheren Raum für meine Gefühle gibt. Er erlaubt mir, ohne Druck zu denken und zu reden. Ich darf ehrlich sein und auf mein Bauchgefühl hören. Ich muss nicht mehr alles alleine durchziehen.

Was Therapie aber nicht ist: ein Wunderheilmittel. Ehrlichkeit tut oft weh, deswegen bedeutet jede Sitzung für mich auch Arbeit. Um überhaupt Beratung zu bekommen, musste ich mir aber erst eingestehen, dass ich Hilfe brauche. Von diesem Punkt aus kann ich stärker werden.