Unbewusst klappt das mit dem Vergessen bei vielen ja schon ganz gut. Wir vergessen ständig etwas: den Schlüssel, den Termin, den Geburtstag. Wer oft Dinge vergisst, gilt als unkonzentriert und schusselig, denn allgemein wird das Vergessen häufig mit dem fehlenden Erinnern, also dem Ausbleiben einer Denkleistung, assoziiert. Wie schön wäre es aber, ganz bewusst einzelne Erlebnisse aus dem Gehirn löschen zu können? Beispielsweise den peinlichen Auftritt auf der Weihnachtsfeier; den Schmerz über den geplatzten Flirt, der doch eigentlich ein bisschen mehr war; den schlimmen Autounfall letzten Winter. So wie sich mit einem Klick auf das Mülleimer-Icon Dateien vom Laptop entfernen lassen.

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"Das deutsche Wort 'vergessen' beruht auf dem Stamm 'gessen' und drückte ursprünglich eine Bewegung in Richtung des Sprechers aus; er 'bekommt' also etwas. Durch die Vorsilbe 'ver' wird es ins Gegenteil verwandelt. Damit ist Vergessen vom Wortstamm her ein aktiver Prozess", erklärt  Martin Korte, Professor für Zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig, in einem Beitrag für das Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft. Ein amerikanisches Forschungsteam fand mithilfe eines Experiments zudem heraus, dass die Prozesse des Vergessens und Erinnerns sich anscheinend auf Zellebene ähneln. Das bedeutet, dass der Mensch prinzipiell nicht nur in der Lage ist, sich Dinge bewusst zu merken, sondern diese auch aktiv zu vergessen.

Vergessen meint nicht verschwinden

Im Kontext psychologischer und neurologischer Forschungen steckt hinter dem Begriff Vergessen allerdings meist eine andere Bedeutung als die, die wir im Alltag nutzen. Wenn wir von vergessen sprechen, meinen wir meistens, dass wir eine Information regelrecht verloren haben. Doch die Forschung zeigt, dass wir nicht die Information als solche verloren haben, sondern nur den Zugang nicht mehr finden. Sie ist also da, wir wissen nur nicht hinter welchem Gehirntürchen. So konnten Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried zeigen, dass beim Vergessen lediglich der Zugang zu verschiedenen Erinnerungen erschwert wird, die Verbindung zwischen den Nervenzellen, die eine Erinnerung sozusagen speichern, allerdings bestehen bleibt. Auch der Leiter des Lehrstuhls für Psychologie (Kognition und Entwicklung) der Universität Regensburg, Karl-Heinz T. Bäuml, vertritt diesen Standpunkt: "Vergessen meint natürlich nicht verschwinden."

So richtig löschen kann der Mensch Erinnerungen also nicht – doch sie lassen sich immerhin in den hinteren Teil der neuronalen Sockenschublade verbannen. Und dabei kann jede*r das Gehirn unterstützen. "Eine Möglichkeit besteht etwa darin, immer wieder verwandte Inhalte aus dem Gedächtnis abzurufen, was dazu führen kann, dass die unerwünschten Erinnerungen selbst immer schwerer abrufbar werden", erklärt Bäuml. Als konkretes Beispiel nennt er die vielen positiven Erfahrungen, die beispielsweise jemand im Büro täglich macht, sodass der Abruf der negativen Erfahrung – wie der Rüffel des*der Vorgesetzten – auf Dauer erschwert wird.

Doch was, wenn keinerlei positive Erinnerungen existieren, die der negativen gegenübergestellt werden könnten? "Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die alte, unerwünschte Information durch verwandte neue Information zu ersetzen. Das heißt: nach vorne schauen und möglichst schnell neue, am besten positive Erfahrungen machen", erklärt Bäuml. So kann der Prozess befördert werden, Erlebnisse, die einem Schlaf und Nerven rauben, in das Synapsennirvana zu schicken. "Damit wir etwas organisch vergessen, müssen sich die Nervennetzwerke so verändern, dass ein Aktivitätsmuster, also die Erinnerung, nicht mehr ausgelöst werden kann. Mitunter bauen sich Kontaktstellen so um, dass die Fähigkeit verloren geht, ein Gedankenmuster hervorzurufen", erklärt der Neurowissenschaftler Henning Beck. Grundlage für die Fähigkeit, sich an Dinge erinnern zu können, sind die Synapsen sowie ihre Verbindungen untereinander. Diese können entweder verstärkt oder geschwächt werden, sodass der Mensch sich an bestimmte Dinge schnell erinnern kann und an andere nicht. "Eine Hirnregion namens Hippocampus fungiert dabei gewissermaßen als Trainer der Nervennetzwerke des Großhirns. Ist ein neuer Eindruck besonderes überraschend, präsentiert der Hippocampus dieses Aktivitätsmuster immer wieder dem Großhirn, bis sich die dortigen Nervenzellen an das neue Muster angepasst haben. So erlangen sie die Fähigkeit, sich zu erinnern", erklärt Beck die Vorgänge im Gehirn.

Aus dem Gedankenkarussell aussteigen

Rein theoretisch müsste der Mensch also, um etwas zu vergessen, dafür sorgen, dass die Synapsen und ihre Verbindungen der jeweiligen Erinnerungen abgeschwächt werden. Inwiefern und in welchem Maße jede*r einzelne dazu in der Lage ist, ist allerdings noch wenig erforscht. Um das Gehirn bei diesem Vorgang zumindest zu unterstützen, lautet ein weiterer Tipp des Psychologen Bäuml: an etwas anderes denken. So manch eine*r wird nun die Augen verdrehen, die Male zählen, an denen Freund*innen diesen Rat schon ausgesprochen haben, ohne dass er wirksam wurde. Manchmal sitzt man doch einfach zu fest im Sattel des Pferdchens im Gedankenkarussell. Egal wie sehr man sich bemüht, man geht beispielsweise immer und immer wieder im Kopf durch, wie der*die Chef*in einen angebrüllt hat. "In diesem Moment ist das sogenannte Grundeinstellungsnetzwerk aktiv – ein Verbund aus Nervenzellen im hinteren Bereich des Gehirns, das für das mind wandering zuständig ist. Deswegen sollte man in solchen Grübelphasen keine monotonen Tätigkeiten wie Ausdauersport machen, bei denen dieses Netzwerk besonders aktiv ist", erklärt Beck.

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Der gut gemeinte Rat, an etwas anderes zu denken, zielt auf den Versuch ab, das belastende Ereignis aus dem Fokus zu rücken. Dabei müssen die anderen Gedanken nicht unbedingt tiefsinniger Natur sein; schöne und als positiv empfundene Erinnerungen an Urlaubserlebnisse, den letzten Sonntagsausflug mit den Freund*innen oder die letzte Party ändern den sogenannten inneren Kontext nachhaltig und setzen positive Akzente im Denken. Ein anderer Weg könnte darin bestehen, die Erinnerung an das negative Ereignis zu sperren: "Versuchen Sie, die unerwünschte Information gar nicht erst ins Bewusstsein kommen zu lassen. Das kann allmählich dazu führen, dass diese Inhalte wirklich weniger oft ins Gedächtnis kommen", erklärt Bäuml. Leichter gesagt als getan. Hilfe kann folgender Trick bieten: die Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit auf beispielsweise Gegenstände im Raum lenken, sodass der aufkommende, negative Gedanke sozusagen in den Hintergrund gedrängt wird.

Wenn’s allein nicht klappt

"Die existierenden Befunde legen nahe, dass es kaum Inhalte gibt, die vom aktiven Vergessen ausgeschlossen sind", ist Bäuml der Meinung. Allerdings seien Experimente, in denen stark emotionale Reize eine große Rolle spielen würden, aus ethischen Gründen ausgeschlossen. "Ob ein aktives Vergessen auch bei wirklich stark emotionalen Gedächtnisinhalten funktioniert, ist also letztlich noch unklar", erklärt Bäuml. Denn bei Menschen, die unter einem Trauma leiden, hat sich das auslösende Ereignis sozusagen eingebrannt. "Wenn wir uns in einer lebensbedrohlichen Lage oder emotionalen Notsituation befinden, schüttet der Körper nicht nur Stresshormone aus, um maximale Energie bereitzustellen und alle körperlichen Vorgänge, die nicht zum unmittelbaren Überleben notwendig sind, auf ein Minimum zu reduzieren. Auch die Gedächtniszentren unseres Gehirns laufen auf Hochtouren. Alles, was mit der Gegebenheit assoziiert ist, soll möglichst genau und nachhaltig abgespeichert werden (während der Abruf bereits gespeicherter Informationen unterdessen gestört ist)", schreibt Martin Korte in seinem Artikel. So sollten Menschen, die das Gefühl haben, mit einer belastenden Erinnerung nicht allein umgehen zu können, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Doch auch die genannten Techniken, um negative Erinnerungen abzuschwächen und weniger gut zugänglich zu machen, sind in ihrer Wirksamkeit nicht ausreichend genug erforscht, um wirklich allgemeingültige Aussagen zu machen. So gibt es kein Patentrezept dafür, wie der Mensch Dinge aktiv vergisst – auch wenn wir scheinbar über die Veranlagung dieser Fähigkeit verfügen. Es bleibt jeder*jedem selbst überlassen, mit sich selbst in den Dialog zu gehen und auszuprobieren, was für eine*n persönlich gut funktioniert. Doch eine gute Nachricht gibt es noch: Allein der Vorsatz, etwas vergessen zu wollen, hat bereits einen für das Vorhaben förderlichen Effekt. Das fand das Forscher*innenteam um Tracy H. Wang in einem Experiment heraus.