Dieser Artikel beschreibt ausschließlich die persönlichen Erfahrungen der Autorin in der von ihr besuchten Klinik. Die Beschreibungen sind nicht auf andere Patient*innen oder Kliniken übertragbar und nicht als allgemeingültig zu verstehen. Wenn du glaubst, psychische Unterstützung zu benötigen, scheue dich nicht, dich an psychologische Beratungsstellen zu wenden. Bei der Telefonseelsorge findest du online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte.

Die Entscheidung war gefallen. Ich würde gehen. In ein paar Wochen würde ich meinen Koffer packen und umziehen, von meiner kleinen Wohnung direkt in die Klinik. In eine psychosomatische Klinik. Eine Klinik für Menschen, die psychische Unterstützung benötigen. Der große schwarze Hund namens Depression folgte mir auf Schritt und Tritt und schnappte mir jegliche Freude weg. Therapie einmal die Woche war nicht mehr ausreichend. Nun also Klinik. Klinik klang für mich nach Krankenhaus, nach Pillen, nach richtig kranken Menschen. Nach letztem Ausweg. Und ziemlich angsteinflößend.

Der erste Tag

Anstatt in klinisch kaltem Weiß zu erstrahlen, strahlt das alte Gebäude Gemütlichkeit aus. Die Pfleger*innen begrüßen mich warm. Sie tragen keine Krankenhauskittel, sondern Alltagskleidung. Gar nicht mal so gruselig bis jetzt, denke ich. Ich bekomme eine Hausführung, beziehe mein Zimmer (Einzelzimmer, ich Glückspilz) und erkunde die weiteren Räumlichkeiten. Neben den Therapieräumen gibt es einen Bereich nur für Patient*innen, bestehend aus Kaffeeküche, Fernsehraum und wildem Garten, inklusive zugelaufener Katze. Alles ist schlicht eingerichtet und erinnert mehr an Jugendherberge als an Krankenhaus. Nachdem ich darauf hingewiesen werde, dass Kontakt mit der Außenwelt nicht verboten sei, aber doch bitte reduziert werden solle, packe ich mein Handy weg (WLAN gibt es keins) und mache mich auf den Weg zum Mittagessen.

Als ich den Speisesaal betrete, kommt ein älterer Herr auf mich zu. Hallo, er sei der Günther und ich herzlich willkommen. Während ich das dann doch an Krankenhaus erinnernde Mittagessen verdrücke, kommen weitere Mitpatient*innen an meinen Tisch, um sich vorzustellen und aufmunternde Worte dazulassen. Es sei alles halb so wild, wie man denken würde. Den Eindruck bekomme ich langsam auch. So herzlich wurde ich bisher noch in keiner neuen Runde aufgenommen. Darum sagt man wohl auch, dass 40 Prozent des Heilungsprozesses über die Therapie selbst abliefen, die restlichen 60 Prozent jedoch von der Patient*innengemeinschaft kämen.

An meinem Tisch wird unter lautem Lachen die gestrige abendliche Siedler-Runde nacherzählt. Ines hatte Apfelkuchen für alle gebacken. Am Tisch daneben wird in Stille gespeist. Am anderen Ende des Raumes weint eine Frau in ihren Nachtisch und findet Trost bei ihrer Sitznachbarin. Eine Palette an Emotionen, eine Bandbreite an Stimmungen. Meine Tischnachbar*innen teilen mir mit, dass man hier einfach so sein könne, wie man ist. Wenn man traurig sei, weine man eben. Wenn man keine Lust habe sich zu unterhalten, unterhalte man sich eben nicht. Wenn man einen Witz nicht lustig finde, fake man kein Lachen. Die Masken, die so viele im Alltag tragen, werden hier abgelegt.

Die Masken, die so viele im Alltag tragen, werden hier abgelegt.

6 Uhr am nächsten Morgen. Jemand klopft an meine Tür und ruft "Guten Morgen!". Mein nun täglicher Weckservice, die Nachtwache. Die Nachtwache übernimmt nachts den Job, den die Pflege tagsüber hat: Seelsorgen, Medikamente verwalten, körperliche Beschwerden lindern und beruhigende Lavendeltropfen verteilen. So, wie die Pflege im Krankenhaus, nur dass hier die Psyche im Vordergrund steht. Eine Anlaufstelle rund um die Uhr. Immer von den Therapeut*innen informiert über den jeweiligen Prozess der Patient*innen. Die Pfleger*innen bilden, neben den eigentlichen Therapiestunden und der Patient*innengemeinschaft, die dritte Säule des Therapieprozesses.

7 Uhr, der Therapietag beginnt offiziell, und das Frühstück steht bereit. Mahlzeiten gelten als Therapiezeiten, es gilt Anwesenheitspflicht. Nach dem morgendlichen Brötchen steht die tägliche Morgenvisite an. Vergleichbar mit der Visite im Krankenhaus wird kurz gecheckt, wie es heute geht. Anwesend außer den Patient*innen: Eine Ärztin und eine Person des Pflegepersonals. In Stuhlkreis-Manier teilt ein jede*r mit, wie er*sie sich gerade fühlt und nein, "Ich bin müde" ist kein Gefühl, das lerne ich schnell.

Wochenplan wie in der Schule

Der Wochenplan, den ich anschließend ausgeteilt bekomme, erinnert schwer an die Schulzeit. Montag bis Freitag stehen täglich verschiedene Therapien auf dem Programm, Freistunden gibt's zwischendurch. In denen darf das Haus verlassen und Besuch empfangen werden. Die Wochenenden sind frei. Samstagmorgen geht's nach Hause, um dort eine Nacht im eigenen Bett zu schlafen, Sonntagabend gilt es wieder zurück zu sein. Belastungserprobungen nennen sich diese Wochenenden. Eine Brücke zwischen der geschützten Klinikblase und dem nicht geschützten Draußen.

Ich spinkse auf meinen Plan und entdecke weit mehr als die erwarteten Gesprächstherapien in Einzel- und Gruppenform. Kunsttherapie, Musiktherapie, Achtsamkeitstraining und Stabilisierungsgruppe stehen, unter anderem, auch auf der Agenda. Bis auf die Einzeltherapie findet alles in Form von Kleingruppen von drei bis acht Personen statt. Seelenstriptease mit Zuschauer*innen also? Vielleicht aber auch die Chance, in einer geschützten Blase – die einen Mikrokosmos der Gesellschaft draußen darstellt – zu üben. Zu üben, Grenzen zu setzen, nein zu sagen, für sich einzustehen. Sich zu öffnen, schlimme Gedanken und Gefühle laut auszusprechen. Zuzuhören und Mitgefühl zu spenden. Ohne Bewertungen, ohne Beurteilung, ohne gut, ohne schlecht, richtig oder falsch.

Doch nicht ganz wie in der Schule

Auch in der Kunsttherapie geht es nicht darum, wie im Kunstunterricht besonders schöne Bilder zu malen. Wenn es darum geht, das eigene Innenleben visuell darzustellen, sieht das nicht immer hübsch und ästhetisch aus, sondern mitunter ganz schön rätselhaft und verstörend. Genauso wie es in der Musiktherapie nicht darum geht, ein neues Instrument zu lernen, sondern seinen Gefühlen einen Klang zu verleihen. Je nach Tagesverfassung eben auch mit lauten Trommelschlägen oder zartem Triangelklang. Für schwer verkopfte Menschen wie mich sind diese kreativen Therapieformen ideal. Der Weg über die kognitive Ebene wird schön ausgelassen, die Intuition darf ans Werk kommen. Und das Kind in mir freut sich wie bolle, dass es sich wieder kreativ austoben darf. Ich bemerke:

Ahja, da war ja doch etwas, das mir Freude bereitet.

Die Stabilisierungsgruppe, auch Stabi-Gruppe genannt, ist für mich wie eine große Schatzkiste – im übertragenen Sinne wie im wortwörtlichen: In dieser befinden sich verschiedene Methoden und Gegenstände, die dabei helfen können, sich selbst zu stabilisieren. Am Beispiel einer Panikattacke: Dem*der Ersten mag es helfen, sich durch das Flitschen eines Gummis am Arm wieder zurück ins Hier und Jetzt zu holen. Dem*der Zweiten hilft vielleicht die 5-4-3-2-1 Methode, bei der alle Sinne aktiviert werden: Was sehe ich, höre ich, fühle ich grade? Und der*die Dritte stellt sich in den Türrahmen, versucht, ihn mit aller Kraft wegzupressen, und holt sich über die körperliche Aktivität wieder zurück. So kann sich jede*r sein persönliches Repertoire an Hilfsmitteln zusammenstellen und diese kleine Schatztruhe mit nach Hause nehmen.

Entspannung und Ruhe bietet das Achtsamkeitstraining. Zugedeckt auf einer Matte liegend soll beim sogenannten Bodyscan in jeden einzelnen Körperteil reingefühlt werden. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Arm ganz schwer wird, fühlt er sich tatsächlich schwer an. Ich beginne mich nach und nach abzugeben. Loszulassen. Sei es mit Hilfe jenes Bodyscans, einer Traumreise an den eigenen Wohlfühlort oder einer angeleiteten Meditation. Das vegetative Nervensystem wird beruhigt – und somit auch die Psyche.

Körper und Psyche sind Eins – darum geht es hier schließlich. Stichwort Psychosomatik. Wenn die Psyche nicht genug Beachtung findet, kann sie den Körper zur Hilfe rufen. Wir alle sind Meister*innen darin, unangenehme Gefühle zu vermeiden, sie wegzudrücken und uns abzulenken. Das geht so lange gut, bis sie sich auf körperlicher Ebene, durch individuelle, verschiedene Symptome, bemerkbar machen. Diese können dann nicht mehr ganz so leicht ignoriert werden. Die Symptome zu behandeln, kennen wir alle, Schmerztablette rein und fertig. Hier wird an die Wurzel, die psychische Ursache, gegangen. Das kann erstmal doppelt wehtun und ist verdammt anstrengend, aber es kann letztendlich zu einer Heilung führen.

Etliche Wochen später sitze ich beim Abendessen, mein Handy vibriert. Ein Freund fragt, wann ich endlich aus der psychosomatischen Klinik entlassen werde. Psychosomatische Klinik. Klinik. Aus seinem Mund klingt das so angsteinflößend. Nach Krankenhaus, nach Pillen und nach richtig kranken Menschen.

Ich gucke mich um und sehe die gewohnten alten Holztische des Speisesaals. Die mit den üblichen Brötchen beladenen Essenstabletts. Die Kunst an den Wänden. Ich sehe Menschen, die einen Ort gefunden haben, an dem sie sich wieder sicherer mit sich selbst fühlen. Die sich ihren Dämonen stellen und versuchen, an sich zu arbeiten. Ob mit medikamentöser Unterstützung oder ohne. Ich gucke mich um und sehe mein Zuhause der letzten Monate. Sehe Mitpatienten, aus denen Freund*innen geworden sind. Und als ich das "bald" in mein Handy eintippe, fühle ich mich dabei fast ein wenig traurig.

Außerdem auf ze.tt: Klassenbeste und Leistungsdruck: Wie Trovi seit der Schulzeit gegen Depressionen kämpft