Pelle Cass ist 64 Jahre alt. Wenn er auf der Veranda seines kleinen Hauses in Brookline im US-Bundesstaat Massachusetts sitzt, beobachtet er gerne das Geschehen im kleinen Park gegenüber. Da sind Kinder, die auf Rutschen und Schaukeln spielen. Da sind Fußballteams, die ihre Spiele austragen. Da sind Studierende, die im Schatten der Bäume lernen und sich in den Pausen Frisbees zuwerfen. Er selbst hat mittlerweile aufgehört, Teamsport zu betreiben. Zu sehr schmerzen seine Knie- und Handgelenke vom langjährigen Volleyball- und Tennisspielen. So blickt er sehnsüchtig auf das Treiben wenige Meter vor sich und damit auch in die eigene Vergangenheit, als

Sport noch nicht mit Schmerzen verbunden war. Trotzdem fühl sich Cass nicht alt. "Die Welt ist noch genauso bunt und hell wie sie früher war", sagt er.

Cass beobachtet gerne. Als professioneller Street-Photographer ist er gewohnt, dort Besonderheiten zu erkennen, wo andere Belangloses vermuten. So gerne er jedoch selbst beobachtet, so unliebsam ist es ihm, wenn ihn andere beim Beobachten beobachten. Zumindest, wenn es um die Arbeit geht. "Auf der Straße, wenn ich fotografiere, fühle ich mich unwohl. Ich fühle mich exponiert und ich mag es nicht, Fremden einfach meine Kamera vor das Gesicht zu halten." Cass bevorzugt es daher, bei Sportveranstaltungen zu fotografieren. An Orten, wo alles andere mehr Aufmerksamkeit bekommt als ein einzelner Fotograf. Wenn das Maskottchen das Publikum anheizt, wenn Hunde bellend über die Tribüne hüpfen, wenn Trainer*innen auf ihre Teams einreden, wenn Eltern nach ihren Kindern rufen oder Platzwarte den Rasen pflegen, und natürlich das Spiel selbst, wenn zwei gegnerische Teams um den Sieg kämpfen. Dann ist ein einzelner Mann, der vom Spielfeldrand ein paar Fotos schießt, leicht übersehbar. Das mag Cass. Eine Menge Trubel, an dem er selbst nicht teilnimmt, ihn aber dokumentiert.

Sportveranstaltungen sind präzises Chaos

Es gibt einen weiteren Grund, warum Cass am liebsten auf Sportveranstaltungen fotografiert. "Ich liebe Körper in Bewegung, wie sie sich verdrehen und verrenken", sagt er. Es gehe ihm nicht darum, über Wettbewerbe zu berichten. Es ist das dringende Streben der Spieler*innen, verschieden große Bälle mit Füßen, Händen oder Schlägern an einen bestimmten Punkt zu bringen, das ihn fasziniert. Sport ist hektisch, manchmal wild, scheinbar chaotisch. Trotzdem liegt hinter all dieser Bewegung eine klare, sogar strenge Struktur an Regeln und Techniken. Cass' geschulte Augen erkennen mittlerweile die Präzision hinter dem Chaos, das Muster in der Hektik. Das ist es auch, was er als Motiv auf seine Fotos projizieren möchte.

So fährt er – wenn es seine Knie zulassen, mit dem Fahrrad – zu Stadien, Trainingsplätzen oder Veranstaltungen von Hochschulen, stellt sein Stativ hinter dem Spielfeldrand auf, positioniert seine Kamera und knipst los. In den nächsten ein bis zwei Stunden wird er sie dann nicht mehr vom Fleck bewegen und aus dem exakt selben Winkel, mit der exakt selben Ausrichtung ein- bis zweitausend Fotos schießen.

Wenn tausende Fotos zu einem werden

Zurück in seinem Studio braucht Cass etwa eine Woche, um ein Foto anzufertigen. Allein um diese große Menge an Fotos zu sichten, auszusortieren und immer wieder zu kontrollieren, braucht er mehrere Tage. Ist das getan, schneidet er mithilfe von Photoshop einzelne Sportler*innen und andere Bereiche aus und legt die verschiedenen Fotos Schicht für Schicht übereinander. So lange bis am Ende ein Spielfeld erscheint, auf dem zum gleichen Zeitpunkt der Ablauf eines ganzes Spiels zu sehen ist. Eine einzelne Bildkomposition besteht aus 200 bis 400 verschiedenen Ebenen. Cass verändert dafür niemals, wo eine Person steht. Er entscheidet nur, ob er sie im Foto behält oder nicht.

Diese Tendenzen zu Mustern gehen manchmal so weit, dass Cass beim Sichten der tausenden Fotos ein Schauer über den Rücken läuft. "Manchmal entdecke ich zwei verschiedene Spieler an der exakt selben Stelle des Spielfeldes in der exakt selben Pose, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Es ist so, als gäbe es nur eine begrenzte Anzahl an menschlichen Gesten, die immer wieder auftauchen." Eine Erkenntnis, die seinen geschulten Augen als Fotograf und dem stunden-, tagelangen Ansehen von Bildern ein- und desselben Spiels zu schulden ist.

Da Cass die Menschen auf den Fotos niemals bewegt oder verschiebt, ist ihm eine weitere Besonderheit aufgefallen. Unterschiedliche Sportarten haben unterschiedliche Arten, das Spielfeld zu nutzen. Während Eishockey-Spieler*innen anscheinend das gesamte Spielfeld, jeden Zentimeter der ganzen Fläche, nutzen, scheint es so, als würden sich Lacrosse-Spieler*innen hauptsächlich vor den Toren und im Zentrum des Feldes tummeln. In den Ecken bewegen sie sich laut Cass kaum. "Manche Grasflecken bleiben für zwei volle Stunden unberührt", sagt er.

Diese Art von Fotos nennt Cass "unbewegte Zeitraffer". Nur mit dieser Technik könne er nämlich darstellen, was Sport in Wahrheit ist: ein Spiel. Mit diesen Kompositionen möchte Cass das sichtbar machen, was bei den meisten Sportveranstaltungen unsichtbar bleibt: "das ekstatische Chaos, Rhythmus, Muster und das körperliche Vergnügen."

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