253 Menschen sind zwischen Januar und August 2019 auf dem Weg durch die Saharawüste nach Nordafrika gestorben oder verschollen. Das ist die offizielle Zahl der International Organisation for Migration (IOM). Die Dunkelziffer liegt höher. "Die Statistik ist unvollständig und unterschätzt sehr wahrscheinlich eine der gefährlichsten Regionen für Migration weltweit", schreibt die IOM. 2017 schätzte die Organisation, dass in der Wüste mindestens doppelt so viele Menschen sterben wie im Mittelmeer. Offiziell starben 2017 mehr als 3.000 Menschen im Mittelmeer – läge die IOM mit ihrer Vermutung richtig, wären in der afrikanischen Wüste in diesem Jahr mehr als 6.000 Migrant*innen gestorben.

Nicht nur im Mittelmeer haben sich angesichts dieser humanitären Katastrophe zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengetan, um etwas gegen das Sterben zu unternehmen. Im Juni 2016 entstand die Idee zu dem Projekt Alarmphone Sahara. Ein ähnliches Projekt gibt es bereits seit fünf Jahren für das Mittelmeer, das Watch The Med Alarm Phone. In Seenot geratene Geflüchtete können bei einer rund um die Uhr besetzten Nummer anrufen, Aktivist*innen versuchen den Notruf mit Nachdruck an die zuständigen Rettungsstellen zu vermitteln und überwachen damit deren Handeln.

Alarmphone Sahara möchte in Not geratenen Migrant*innen in der Wüste helfen. Im Februar 2017 öffnete das Büro in Agadez in Niger. Moctar Dan Yaye war von Anfang an bei dem Projekt dabei. Mit uns hat er darüber gesprochen, warum es so schwer ist, Menschen aus der Wüste zu retten – und warum Europa Mitschuld an den Toten trägt.

ze.tt: Moctar, ihr wolltet die Idee von Watch The Med Alarm Phone für die Sahara adaptieren. Geht das?

Moctar Dan Yaye: Wir mussten feststellen, dass die Idee von Watch The Med Alarm Phone für die spezielle Situation in der Sahara nicht funktioniert. In der Wüste hat man häufig keinen Empfang. Häufig nicht mal in Dörfern, die entlang von Routen durch die Wüste gelegen sind. Stattdessen haben wir ein Netz aus Hinweisgebern aufgebaut. Diese Hinweisgeber sind Freiwillige, die an oder in der Nähe von Orten wohnen, die häufig von Migranten auf dem Weg durch die Wüste passiert werden. Sie kennen sich in der Gegend aus. Sie sind wie unsere Augen. Wenn sie mitkriegen, dass eine Gruppe Migranten in Not ist, kontaktieren sie unser Büro in Agadez. Die Alarmphone Sahara Nummer ist also nicht nur für Migranten in Not da, sondern dient auch der Koordination – nicht nur innerhalb Nigers.

Wer trägt euer Projekt?

Alarmphone Sahara ist international organisiert. Es ist ein Netz aus verschiedenen Aktivisten und Organisationen, die im Bereich Migration tätig sind. Sie sitzen zum Beispiel in Togo, Mali, Burkina Faso oder Marokko. Unser Anliegen ist es, zu sensibilisieren, zu dokumentieren und bei Bedarf zu retten.

In Westafrika ist der Raum, in dem sich die Menschen fortbewegen können, seit einiger Zeit sehr begrenzt.
Moctar Dan Yaye

Was tut ihr, um zu sensibilisieren?

In Westafrika ist der Raum, in dem sich die Menschen fortbewegen können, seit einiger Zeit sehr begrenzt. Wir informieren Migranten darüber, welche Rechte sie haben. Wir sensibilisieren sie für Risiken und Gefahren, denen sie auf ihren Migrationswegen begegnen könnten. An Orten, die häufig von Migranten auf dem Weg durch die Wüste frequentiert werden, verteilen wir Flyer mit Tipps. Darauf stehen Sicherheitsmaßnahmen, die man vor der Reise überprüfen sollte, Ratschläge, welche Dinge man für die Reise einpacken sollte, Tipps, wie man sich in einer Notsituation verhalten sollte, und wichtige Adressen in umliegenden Ländern.

Was für Ratschläge stehen da beispielsweise drauf?

Zum Beispiel, dass man überprüfen sollte, ob der Fahrer ein Satellitentelefon, Ersatzreifen und Wasserfässer dabei hat und sein Auto voll getankt ist. Neben genügend Wasser und Essen sollten Migranten auch wichtige Medizin wie Schmerztabletten oder Medikamente gegen Durchfall dabei haben. Sie sollten weiße Kleidung tragen, die weithin sichtbar ist und am besten einen Turban dabei haben, um sich vor dem Staub zu schützen. Im Falle einer Notsituation ist es wichtig, nicht in Panik zu geraten und als Gruppe zusammen zu bleiben.

Du hast Dokumentation als eine eurer Aufgaben genannt. Was genau dokumentiert ihr?

Menschen legen bei uns Zeugnis darüber ab, was sie auf der Route gesehen und erlebt haben. Wir sammeln Informationen, was sich auf den Routen durch die Wüste abspielt, versuchen Menschenrechtsverletzungen und Tote zu dokumentieren. Für uns ist Mobilität ein universelles Recht. Aber wir stellen fest, dass es für Menschen aus Sub-Sahara-Afrika immer schwieriger und gefährlicher wird, nach Norden zu reisen.

Für uns ist Mobilität ein universelles Recht.
Moctar Dan Yaye

Warum?

Seit 2015 gibt es ein Gesetz, das sogenanntes illegales Schmuggeln von Migranten verbietet. Seitdem werden sämtliche Tätigkeiten, die mit dem Transport von Migranten durch die Wüste zusammenhängen, kriminalisiert. Häufig wird nur daran gedacht, wie man verhindert, dass Menschen über den Maghreb nach Europa reisen. Man fragt sich nicht, warum die Zahl der Verschollenen und Toten steigt. Seit 2015 ist es ein Risiko, Menschen durch die Wüste zu transportieren – Fahrer kommen ins Gefängnis, Fahrzeuge werden konfisziert.

Was hat sich dadurch an der Situation geändert?

Seitdem sind die Fahrer auf der Hut. Früher haben erfahrene Fahrer, die sich in der Wüste auskennen, die Menschen transportiert. Meistens in Konvois. Viele der erfahrenen Fahrer wurden gezwungen, aufzuhören, sie sitzen im Gefängnis oder haben kein Fahrzeug mehr. Der Transport findet nicht mehr in Konvois statt, sondern in einzelnen, getarnten Fahrzeugen. Die Fahrer versuchen, Checkpoints zu umgehen und andere, unbekannte Routen durch die Wüste zu nehmen. Das ist ein Risiko. Es braucht nur eine Panne und schon ist man in der Wüste verloren. Wenn die Fahrer Polizei oder Militär sichten, passiert es außerdem häufig, dass sie fliehen und die Migranten zurücklassen.

Und in solchen Fällen rettet ihr?

Wir retten bei Bedarf, wenn Migranten zurückgelassen wurden oder ein Fahrzeug eine Panne hat. Die Leute haben Angst, die Autoritäten zu kontaktieren. Wenn ein anderer Fahrer beispielsweise sieht, dass Migranten zurückgelassen wurden oder ein Fahrzeug eine Panne hat, kann er nicht die Polizei informieren. Wenn er das tut, besteht die Gefahr, dass er verdächtigt wird, die Menschen transportiert zu haben.

Gibt es auch Menschen, die auf dem Weg von Norden nach Süden in Not geraten?

Wir stellen Push-Backs fest, bei denen nordafrikanische Länder Personen ohne entsprechende Aufenthaltstitel in Grenznähe zurückschieben. In Niger gibt es beispielsweise das Dorf Assamaka, das nah an der algerischen Grenze liegt. Das algerische Militär setzt Menschen in der Nähe des Dorfs aus, an einem Ort, der Point Zero heißt. Dieser befindet sich etwa 15 Kilometer entfernt von Assamaka, mitten in der Wüste. Meistens ist es nachts und man sieht die Lichter des Dorfes zur Orientierung. Aber 15 Kilometer zu gehen, dauert. Wenn es hell wird, verschwinden die Lichter – und damit die Orientierungspunkte in der Wüste. Dann ist es leicht, sich zu verlieren – das kann in einer Tragödie enden. Wenn unsere Hinweisgeber mitbekommen, dass eine Gruppe Menschen zurückgeschoben wurden, fahren sie mit dem Motorrad die Wege ab und versuchen, diese zu finden.

In welchem Zustand findet ihr die Menschen?

Häufig ist das unaussprechlich. Stell dir vor, du verirrst dich in der Sahara und denkst, dass du nicht gerettet wirst. Schon das kann traumatisieren. Häufig ist auch ihr physischer Zustand sehr schlecht, sie sind durstig, hungrig, sie sind viele Kilometer gegangen und erschöpft.

In Assamaka gibt es Menschen, die völlig aufgegeben haben. Es ist schwierig, mehr für sie zu machen, als ihnen Wasser und Essen zu geben. Manchmal kann man mit ihnen nicht mal darüber reden, wie sie heißen oder woher sie ursprünglich kommen. Stell dir vor, du wohnst seit Jahren in Algerien, arbeitest und verdienst Geld, und eines Tages sammelt dich die Polizei unerwartet ein, setzt dich in ein Auto, teilweise darfst du nicht mal deine Papiere oder Ersparnisse mitnehmen. Sie sammeln dich auf der Straße ein, ohne alles, und schieben dich ab. Das ist ein Schock und traumatisiert die Menschen.

Inwiefern trägt Europa Mitschuld an dieser Katastrophe, die sich in der Wüste abspielt?

Die europäischen Regierungen wollen nicht, dass die Menschen über das Mittelmeer zu ihnen kommen. Also verlangen sie von den lokalen Regierungen, dass sie die Kontrollen verstärken und die Menschen daran hindern, zu migrieren. Europa hat dadurch faktisch seine Außengrenzen externalisiert, also nach Afrika verlegt. Durch die Kriminalisierung der Migration steigt die Zahl die Toten. Denn Menschen, die migrieren müssen, nehmen auch mehr Risiken auf sich.

Dabei ist es ein Irrtum, dass Europa das Ziel sämtlicher afrikanischer Migranten ist. Weitaus mehr migrieren beispielsweise innerhalb der westafrikanischen Länder, andere wollen in den Maghreb. Aber die Kriminalisierung erschwert die Migration für alle. Auch für den Nigrer, der nach Burkina Faso will, oder den Ghanaer, der nach Niger will. Das hat auch ökonomische Auswirkungen.

Inwiefern?

Die Wirtschaft der Region Agadez ist historisch von Migration abhängig. Dazu gehört nicht nur der Transport der Menschen, sondern auch die Frauen, die auf dem Markt Nahrungsmittel einkaufen, die Herbergen, die Zimmer an Migranten vermieten, und so weiter. All diese Wirtschaftsbereiche sind ebenfalls von der Kriminalisierung der Migration betroffen. Wir wollen auch darauf aufmerksam machen. Die europäische Politik will einfach verhindern, dass Menschen über das Mittelmeer kommen. Aber das hat gravierende Auswirkungen auf die Region – nicht nur für Agadez, aber für alle westafrikanischen Länder.

Was müsste getan werden?

Man kann nicht einfach verhindern, dass sich Menschen fortbewegen. Man muss für die, die hier leben, Möglichkeiten schaffen. Aber das Versprechen, dass diese geschaffen werden, ist bislang nichts als heiße Luft. Es soll finanzielle Mittel geben, um Menschen zu unterstützen, die bisher ihren Lebensunterhalt beispielsweise als Fahrer verdient haben. Aber von etwa 3.000 Menschen, die sich bisher um finanzielle Unterstützung beworben haben, haben nur etwa 400 eine bekommen. Und das, was sie mit ihren neuen Tätigkeiten verdienen, ist deutlich weniger als das, was sie früher bekommen haben.