Während der Schulzeit verbrachte Lea, die eigentlich anders heißt, ein halbes Jahr in den USA. Als sie wiederkam, hatte sie zehn Kilo zugelegt. Lea fiel die Gewichtszunahme auf, sie war schon immer sportlich und recht schlank gewesen. Auch anderen fiel es auf. "Ich war damals 15, da macht man sich natürlich viele Gedanken um den eigenen Körper", meint Lea, die heute 23 Jahre alt ist. Die zusätzlichen Kilos passten nicht zu ihrem Hang zum Perfektionismus und ihrem Verlangen, stets die Kontrolle zu behalten. Irgendwann fasste die damalige Schülerin deshalb den Entschluss: Sie möchte abnehmen.

Weil Lea nicht viel über Ernährung und Diäten wusste, war ihr erster Impuls, weniger zu essen. Weniger. Und immer weniger. "Es fing klein an: Ich habe erst auf Süßes verzichtet, dann auf Kohlenhydrate, dann habe ich abends nichts mehr gegessen." Gleichzeitig ging die ohnehin sportliche Lea immer öfter und länger laufen, viermal die Woche 15 bis 20 Kilometer. Oft ohne vorher was zu essen. Generell war ihr Essverhalten irgendwann sehr vom Sport abhängig.

Sport war meine Berechtigung, zu essen.
Lea

"Es wurde sehr zwanghaft. Mein ganzer Tag drehte sich nur darum, was ich esse und wie viel ich wiege. Sport war meine Berechtigung, zu essen", sagt die 23-Jährige. Sie wog ihr Essen ab und stellte sich selbst mehrmals täglich auf die Waage. Außerdem hörte sie mit Volleyball auf, weil es ihr die Zeit zum Laufen nahm. "Es war eine einfache Rechnung: Beim Volleyball verbrenne ich in viel Zeit wenig Kalorien, beim Joggen ist es andersrum." Dieses Verhalten schränkte ihr Sozialleben zunehmend ein, Geburtstage oder ein Abendessen mit Freund*innen wurden zu unentspannter Zeitverschwendung. Besonders schlimm waren Urlaube, weil Lea dann keine Kontrolle mehr über ihre Ernährung und die Kalorienzufuhr hatte. Die Konsequenz: Sie aß noch weniger als sonst. In einen Urlaub, in dem sie keine Möglichkeit hätte, Sport zu treiben, wäre Lea damals gar nicht erst mitgefahren.

In zwei Monaten verlor Lea zwölf Kilo. Sie entwickelte, das weiß sie mittlerweile, in dieser Zeit eine Anorexie. Und ist vor allem erschrocken darüber, wie schnell sie abrutschte. "Ich hatte vielleicht auch eine Veranlagung dazu, ich bin diszipliniert und fast fanatisch perfektionistisch. Das Erfolgserlebnis, so viel Kontrolle über meinen Körper zu haben, bestärkte mich, glaube ich, zusätzlich. Aber es war trotzdem krass, wie schnell das ging."

Wird das Gewicht vor allem durch Sport reguliert, spricht man von Sportanorexie oder -bulimie

Eine Anorexie, erklärt Thomas Huber, zeichnet sich dadurch aus, dass jemand sein Gewicht ganz bewusst niedrig halten möchte und große Angst vor Gewichtszunahme hat. "Anders als bei einer Bulimie gibt es hier keine Essattacken, es geht klar um die Nahrungsrestriktion und darum, möglichst wenig zu essen." Huber ist Chefarzt an der Klinik am Korso, Psychiater, Psychotherapeut und Ernährungsmediziner. Die Klinik in Bad Oyenhausen ist die einzige in Deutschland, die sich ausschließlich auf Essstörungen spezialisiert. Die Gewichtsreduktion könne grundsätzlich durch Erbrechen erzielt werden, mithilfe von Appetitzüglern, Abführmitteln – oder eben durch Sport. "Ist dieser Anteil sehr ausgeprägt, spricht man von Anorexia athletica, Sportanorexie." Es ist die Form der Essstörung, an der Lea vermutlich litt.

In der Klinik am Korso sind Betroffene nur zwischen fünf und zehn Wochen, sie werden dort stationär behandelt und danach in eine ambulante Therapie überführt. Zur Behandlung zählt oft eine verordnete Sportabstinenz von zwei bis drei Wochen. Eine solche Abstinenz hat Lea nie gemacht. "Das kann ich mir auch nicht vorstellen", gibt sie zu. "Ich glaube, da ist das Zwanghafte bei mir noch nicht wirklich raus. Sport ist aber auch einfach eines meiner größten Hobbys."

Noch lange hatte Lea mit Spätfolgen ihrer Essstörung zu kämpfen

Heute, sagt sie, habe sie es aber wieder ein gesünderes Verhältnis zum Sport und zur Ernährung entwickelt. Zwei Jahre lang war sie wegen der Essstörung in Therapie. Und obwohl sie ihre Anorexie schon ein halbes Jahr nach Beginn behandelte, spürte Lea die Nachwirkungen noch lange danach. "Die Krankheit hat mein Selbstbild verzerrt. Drei oder vier Jahre hatte ich außerdem meine Periode nicht. Ein Jahr nach dem Ende meiner Therapie wurde bei mir das PCO-Syndrom festgestellt, eine Stoffwechselstörung, ich musste Medikamente nehmen", zählt sie auf. "Es hat auch einige Zeit gedauert, bis mein Hungergefühl wieder zurückkam. Schlechte Eisenwerte habe ich bis heute." Das, sagt Huber, sei allerdings eher ungewöhnlich. "Normalerweise läuft der Körper nach einem halben Jahr wieder im selben Modus wie vorher, wenn ein Normalgewicht erreicht wurde."

Auch Mounia Jayawanth hat lange mit ihrer Essstörung gekämpft. Bei der 26-Jährigen begann es relativ spät: Mit Anfang 20, zu Beginn ihres Studiums, wurde sie ebenfalls anorektisch. Weil sie tagsüber so wenig aß, bekam Mounia abends irgendwann regelrechte Essattacken – ein Symptom von Bulimie. Um die übermäßige Kalorienzufuhr auszugleichen, begann sie, immer exzessiver Sport zu treiben. Und zwar ziemlich systematisch: "Ich bin danach ins Fitnessstudio gerannt und habe versucht, genau diese Anzahl an Kalorien wieder zu verbrennen. Oder andersrum."

Weil sie für ihre Figur viel Lob bekam, nahm Mounia ihr Verhalten lange nicht als Problem wahr

Die Krankheit, unter der Mounia in diesen Jahren litt, nennt sich Sportbulimie. Wie die Sportanorexie handelt es sich dabei um eine Form der Essstörung, bei der die Gewichtsregulierung vor allem durch Sport stattfindet. Wenn Mounia Heißhungerattacken bekam, aß sie oft so viel wie sonst in zwei Tagen. Dann trat das schlechte Gewissen ein. "Der Gang ins Fitnessstudio war für mich die Kompensation der Essattacken", sagt die 26 Jahre alte Autorin. Und weil es ihr beim Sport eigentlich nur ums Kalorienverbrennen ging, machte sie ausschließlich Ausdauertraining. "Der Tag fing meistens schon damit an, dass ich morgens eine Stunde mit dem Fahrrad zur Uni fuhr", erklärt Mounia, die in Berlin gerade ihren Master macht. "Danach ging es weiter ins Fitnessstudio und mit dem Fahrrad wieder nach Hause. Und das beinahe jeden Tag." Wie bei Lea drehte sich auch ihr Leben eine Zeit lang fast ausschließlich um Essen und Sport.

Weil sie für ihre Figur und die Disziplin beim Sport sehr viel Lob bekam, nahm Mounia ihr Verhalten lange nicht als Problem wahr. "Ganz im Gegenteil, für viele meiner Freund*innen war ich ein Vorbild", sagt sie. Ihre Essstörung nahm immer extremere Züge an, in der Hochphase konnte Mounia nichts mehr essen, ohne direkt danach Sport zu treiben. "Die Weihnachtszeit, wenn die Fitnessstudios zu hatten, war für mich immer besonders hart", erzählt sie. Trotz all der Anstrengung blieb ihr Gewicht weitestgehend stabil, Schuld daran hatten die Essanfälle und der Sport selbst. Denn durch das Training baute Mounia zwar Fett ab, aber Muskeln auf. Nach außen hin blieb ihr Problem deshalb lange unsichtbar.

Bulimie ist generell eine sehr heimliche Erkrankung, weil sie optisch nicht so auffällt.
Thomas Huber, Chefarzt der Klinik am Korso

Das passiere bei der Sportbulimie häufig, sagt Thomas Huber: "Bulimie ist generell eine sehr heimliche Erkrankung, weil sie optisch nicht so auffällt. Und wer viel Sport macht, wird vom Umfeld eher gelobt, als dass das Leid gesehen wird." Wann kommt es denn bei Patient*innen normalerweise zur Krankheitseinsicht, wann kommen sie zu ihm in die Klinik? "Patient*innen mit Sportanorexie kommen meist, weil sich der Sport mit ihrem Gewicht nicht mehr vereinbaren lässt. Sie werden immer erschöpfter, weil ihr mangelernährter Körper die Belastung nicht mehr aushält", sagt er. "Bei beiden Krankheitsbildern sind die sozialen Folgen der Krankheit aber oft Auslöser dafür, dass Menschen zu uns kommen: Wenn die Betroffenen merken, dass sie sich isolieren, weil es in ihrem Leben nur noch um Arbeit und Sport geht."

Auch Mounia begann ihre Therapie damals erst, als ihr Umfeld begann, sich Sorgen zu machen. "Irgendwann zeigte die Bulimie ein anderes Gesicht, auf die Phase der Sportbulimie folgte Kompensation in Form von Erbrechen", erzählt sie. "Das war der Moment, als ich das auch vor mir selbst nicht mehr leugnen konnte. Sport und Diäten konnte ich in meinem Kopf immer rechtfertigen."

Durch die Therapie schaffte es die 26-Jährige aus den Verhaltensmustern. "Dafür musste ich mir selbst auch eine Sportabstinenz verordnen", sagt sie. "Ich habe oft versucht, es auf ein gesundes Maß herunterzuschrauben und nur noch einmal die Woche zu trainieren. Aber diese Tage waren genau die, in denen meine Essstörung auch sehr präsent war." Also kündigte Mounia im Fitnessstudio und machte fast vier Jahre lang keinen Sport mehr. Einzig mit dem Fahrrad fuhr sie manchmal von A nach B. "Ich hatte Angst, dass ich mich sonst selbst wieder zu sehr triggere." Entgegen ihrer Erwartung wirkte sich die Sportabstinenz kaum auf ihr Gewicht aus – vorher eine ihrer größten Sorgen.

Es liegt nicht daran, dass wir alle Models werden wollen. Hinter einer Essstörung stecken meist seelische Verletzungen.
Mounia, Bloggerin und Autorin

"Es ist wichtig, zu wissen: Eine Sportbulimie, wie alle Essstörungen, ist etwas Psychisches und hat wenig mit Essen oder Sport an sich zu tun", so die Studentin. "Es war deshalb nicht einfach vorbei, als ich mit dem Sport aufgehört habe." Erst als sie die Ursachen hinter ihren Essattacken, der einseitigen Ernährung und der Fixierung auf ihr Gewicht hinterfragte, schaffte sie es, mit ihrer Essstörung umzugehen. "Es liegt nicht daran, dass wir alle Models werden wollen. Meist stecken dahinter seelische Verletzungen." Inzwischen hat Mounia ihre Krankheit größtenteils hinter sich gelassen. "Ich lebe heute symptomfrei."

Lea ist ebenfalls seit einigen Jahren symptomfrei. Aber auch sie weiß, dass das nicht bedeutet, dass die Krankheit in ihrem Leben keine Rolle mehr spielt. "Sie wird für immer ein bisschen da sein. Ich weiß zum Beispiel heute noch, wie viele Kalorien das, was ich gerade esse, ungefähr hat und zähle unterbewusst mit", sagt sie. "Man vergisst das nie mehr. Kalorienzahlen sind wie eine Sprache, die du dann sprichst." Lea ist dankbar für das, was sie in der Therapie über sich selbst gelernt hat. "Wäre mir das nicht passiert, wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin", sagt sie. "In der Zeit bin ich wahnsinnig gereift."

Mittlerweile macht Mounia wieder Sport – und schreibt über das Erlebte

Mounia schreibt heute unter dem Pseudonym Mias Anker über das Erlebte. Vergangenes Jahr hat sie einen Roman rausgebracht, in dem es ebenfalls um Essstörungen geht. "Ich möchte damit Jugendliche ansprechen und mithilfe meiner Erfahrungen authentisch aufzeigen, wie es ist. Ohne Stigmatisierung. Repräsentation schaffen." Eine Fortsetzung dieses Romans soll bald folgen.

Seit einem Jahr treibt Mounia außerdem wieder Sport. Langsame Joggingrunden und ab und an auch Kraftübungen sind wieder ein Teil ihres Alltags. "Aber auch nur ein ganz kleiner. Ich mache Sport, wenn ich Zeit und Lust dazu haben – als Ausgleich zum Alltag. Nicht mehr und nicht weniger. Es hat nichts mehr mit meinem Gewicht oder Kalorien zu tun", sagt Mounia.

Die Frage, wann Sport eigentlich zum Problem wird, beantwortet der Mediziner Thomas Huber so: "Wenn der Körper leidet, man trotz Verletzung oder Erkältung weitertrainiert. Wenn ich merke, dass ich Sport aus Zwang treibe. Und wenn der Rest des Lebens darunter leidet", so Huber. "Man muss sich wieder ein gesundes Ess- und Sportverhalten angewöhnen, das nichts mit Zwang zu tun hat. Dafür muss man Sport und Essen voneinander trennen. Außerdem muss man verstehen, was dahintersteht. Eine Essstörung ist prinzipiell so etwas wie ein kreativer Lösungsversuch für ein Problem, das muss man verstehen und neue Lösungen finden." Meistens dauere das Jahre, die Grenzen zwischen gesundem Sport und Zwang sind oft fließend. Aber: "Wer einmal eine Essstörung hatte, kann sie auch durchaus überwinden", betont Huber.