Caster Semenya ist eine der schnellsten Frauen der Welt. Doch seit Jahren muss die südafrikanische Mittelstreckenläuferin dafür kämpfen, auch als diese schnelle Frau gesehen zu werden. Denn während Semenya bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin 2009 ihre erste Goldmedaille in Empfang nahm, begann in der Sportwelt eine Diskussion über ihre Weiblichkeit.

In der Leichtathletik gibt es seit 2011 einen Grenzwert für Testosteron, der festlegt, ob Athlet*innen im Frauenwettbewerb starten dürfen. Caster Semenya, deren Testosteronwert über dieser Grenze liegt, klagte erst am Internationalen Sportgerichtshof und legte dann Berufung am Schweizer Bundesgerichtshof ein. Beides mal verlor sie, zuletzt im September 2020. Sie darf aktuell nicht mehr bei in der Mitteldistanz der Frauen antreten.

Der Fall von Caster Semenya steht exemplarisch für den vieler intersexueller Athlet*innen, also Menschen, die weibliche und männliche Körpermerkmale aufweisen. Sie stellen die Sportwelt vor eine schwierige Debatte, in der es um fairen Wettbewerb und Ethik geht. Was macht eine Frau zur Frau? Und wer darf das entscheiden?

Der Sozialwissenschaftler Dennis Krämer arbeitet am Institut für Medizinische Ethik der Ruhr-Universität Bochum. Im April veröffentlichte er das Buch Intersexualität im Sport – Mediale und medizinische Körperpolitiken. Er sagt: Wie wir Geschlecht definieren und feststellen, hat sich über die letzten Jahrzehnte maßgeblich verändert.

ze.tt: Herr Krämer, der Fall Caster Semenya erregt seit Jahren öffentliches Aufsehen. Was müsste passieren, damit sie wieder in Wettbewerben antreten darf?

Dennis Krämer: Caster Semenya hat einen medizinisch sogenannten hyperandrogenen Körper. Der Begriff setzt sich zusammen aus "hyper" von "zu viel" und "Androgenen" von griechisch "andros" für Mann, also die männlichen Hormone. Aus der Sicht der Weltsportverbände hat Semenya zu viele männliche Hormone, insbesondere Testosteron, um bei den Frauen mitzulaufen, weil ihr das einen Wettbewerbsvorteil verschaffen würde. Wenn sie dennoch antreten möchte, so die aktuelle Position des Weltsportverbands, müsse sie ihren Testosteronwert senken, zum Beispiel medikamentös.

Die Sportwelt trennt scharf in zwei Geschlechterkategorien: Mann und Frau. Wo führt das zu Konflikten?

Das betrifft vor allem den Frauensport, in dem Athlet*innen ihr Geschlecht gegebenenfalls nachweisen müssen – heute hauptsächlich über den Testosteronwert, früher über Chromosomentests und Genitalinspektionen. Das wird mit der Existenz von intersexuellen Sportler*innen begründet und damit, dass diese unter Frauen einen starken Wettbewerbsvorteil hätten, "echte" Frauen somit einen Nachteil. Betroffene müssen deshalb über medizinische Tests ihre Weiblichkeit beweisen oder – wie im Fall von Caster Semenya – ihre Körper müssen entsprechend reguliert werden.

Noch bis in die Sechzigerjahre war es gängige Praxis, das "wahre Geschlecht" von intersexuellen Personen über eine Genitalinspektion zu entlarven.
Dennis Krämer

Den Männersport betrifft dies nicht. Hier wird davon ausgegangen, dass Männer grundsätzlich leistungsstärker seien als Frauen und intersexuelle Athlet*innen keinen Vorteil hätten. Laut Regularien steht es intersexuellen Sportler*innen deshalb frei, bei den Männern anzutreten. Das Problem: Personen wie Caster Semenya sind keine Männer. Caster Semenya versteht sich selbst unzweifelhaft als Frau.

Seit wann ist Intersexualität im Sport ein Thema?

Intersexualität im Sport ist kein neues Phänomen, sondern seit dem frühen 20. Jahrhundert ein Thema. Es wurde damals jedoch von Presse und Wissenschaft noch nicht als Intersexualität benannt. Wenn der Verdacht entstand, dass mit dem Geschlecht etwas nicht stimmte, ging es meist um Transvestitismus: Ist es ein verkleideter Mensch anderen Geschlechts? Täuscht jemand vielleicht ein falsches Geschlecht vor? Noch bis in die Sechzigerjahre war es gängige Praxis, das "wahre Geschlecht" von intersexuellen Personen über eine Genitalinspektion zu entlarven.

In den Sechzigerjahren wurde dann der Anatom Murray Barr bekannt, nach dem auch der Barr-Body-Test benannt ist. Mit diesem kam es in der Medizin zu einem Paradigmenwechsel in der Geschlechterklassifikation. Fortan wurden nicht mehr die Genitalien, sondern die Geschlechtschromosomen als zentrale Kriterien herangezogen, um Geschlecht zu bestimmen.

Barr hat allerdings in seinen Forschungen niemals behauptet, dass es nur XX und XY gibt, sondern etliche weitere Chromosom-Kombinationen existieren. Im Sport wurde dieser wichtige Aspekt ignoriert. Viele Mediziner*innen und auch die Sportwelt haben stattdessen alles, was nicht dem klassisch weiblichen Chromosomensatz von XX entsprach, mithilfe des Barr-Body-Tests als männlich identifiziert. Sobald ein Y-Chromosom vorlag, wurde die Person dann aus dem Frauensport disqualifiziert.

Und heute ist es eben der Testosteronwert?

Ja, heute herrscht weitestgehend die Einsicht, dass es intersexuelle Menschen gibt und sie einen Anspruch auf eine Existenz in einem selbstbestimmten Geschlecht haben. Die Ergänzung eines diversen Geschlechts im Personenstand ist ein Beispiel für die Anerkennung dieser Tatsache in der Bundesrepublik. Solche Entwicklungen vollziehen sich aktuell global. Damit können Sportverbände nicht mehr im Rahmen von Genitalprüfungen oder Chromosomentests in Mann und Frau unterteilen und alle Athlet*innen, die nicht in diese Kategorien passen, ausschließen.

Heute geht es nicht mehr um die grundsätzliche Einteilung in Mann und Frau, sondern um eine Art Grenzwert für den Wettbewerbssport.
Dennis Krämer

Deshalb gibt es heute eine Alternative, die die Einteilung in zwei Geschlechter nicht mehr auf der Grundlage einer binären Vermessung vornimmt, sondern Geschlecht graduell messbar macht: die Hormonwerte. Sie stehen für Geschlechter-Fluidität, es geht nicht mehr um die grundsätzliche Einteilung in Mann und Frau, sondern um eine Art Grenzwert für den Wettbewerbssport. Der kann chirurgisch oder medikamentös angepasst werden, was auch Caster Semenya nahegelegt wurde. Wenn sie dem zustimmt, darf sie weiterhin im Frauensport antreten.

Gefährden intersexuellen Sportler*innen wirklich den fairen Wettbewerb?

Was fair ist, ist keine objektive Tatsache. In einer Sozialwelt, die nicht einfach gegeben ist, sondern von Menschen gestaltet wird, verändern sich die Wahrnehmungen von Fairness fortlaufend. Was heute als richtig oder fair gilt, kann morgen absolut falsch oder unfair sein.

Blickt man auf den Sport, dann stellt bereits der Anspruch, einen fairen Wettbewerb herzustellen, ein Paradoxon dar. Im Wettbewerb setzt sich immer jemand durch, der in gewisser Hinsicht besser ist als jemand anderes. Wettbewerb basiert im Kern also auf dem Prinzip der Hierarchisierung von "Besseren" gegenüber "Schlechteren". Dies wird von den Teilnehmenden so lange als fair empfunden, wie sie den Bedingungen der Hierarchisierung zustimmen.

Was fair ist, ist keine objektive Tatsache.
Dennis Krämer

Mit Blick auf das Thema der hyperandrogenen Sportler*innen wird ein als erhöht eingestufter Testosteronwert aktuell als Bedrohung für einen fairen Wettbewerb im Frauensport angesehen. Zu viel körpereigenes Testosteron wird heute ganz ähnlich gewertet wie Doping. Die Einstellung zu den Testosteron-Obergrenzen im Frauensport kann sich in einigen Jahren allerdings wieder komplett ändern. Die Veränderung der Geschlechtstests über den Lauf der Zeit macht dies ja ganz deutlich.

In der Diskussion um Caster Semenya wird öfter angebracht, dass der Schwimmer Michael Phelps durch seine langen Arme und großen Hände einen ähnlichen Wettbewerbsvorteil hat. Das werde aber nicht hinterfragt, sondern im Gegenteil bejubelt. Sehen Sie das ähnlich?

Das ist eine der spannendsten Fragen. Wieso wird eine Person, die durch ihre besondere Physiologie einen offensichtlichen Wettbewerbsvorteil hat, bejubelt und nicht disqualifiziert oder in eine andere Kategorie gesteckt? Michael Phelps ist da nur ein Beispiel. Aus dem Profibasketball wissen wir, dass viele eine sogenannte Makrosomie haben, also einen umgangssprachlichen "Hochwuchs". Das ist, wenn Sie so wollen, eine chromosomale Besonderheit, die zu Erfolgen in diesem Sport befähigt. Bei Caster Semenya führt eine chromosomale Besonderheit zu einem hyperandrogenen Körper. Das wird aber nicht als physiologische Besonderheit wahrgenommen, sondern als unverdienter Vorteil und Ungerechtigkeit.

Warum ist das so?

Im Kern geht es nicht darum, zu ermitteln, welche Qualitäten oder Körpermerkmale erlaubt oder verboten sind. Es geht nach wie vor darum, den Frauensport rein zu halten. Und dies umfasst neben der Vermeidung von Doping auch, dass keine Männer in diesem antreten. Die Grenze zwischen Mann und Frau wird aktuell eben über Hormonwerte hergestellt. Sehr zum Leidtragen von intersexuellen Personen, die keine Männer sind. Die Hormone sind aber eigentlich nur ein Aspekt in der ganzen Thematik. Aus meiner Sicht gibt es noch zwei andere Aspekte, die dabei außen vor gelassen werden.

Und zwar?

Dass wir heute überhaupt in dieser Art und Weise über intersexuelle Personen wie Caster Semenya sprechen, ist das Resultat einer Emanzipationsbewegung. Wir wissen inzwischen von Geschlechtervariationen, benutzen Begriffe wie Trans- und Intersexualität oder Hyperandrogenismus. Das gab es lange Zeit nicht: Als intersexuelle Menschen in den Neunzigerjahren das erste Mal an die Öffentlichkeit gegangen sind, um von ihrer medizinischen Behandlung zu berichten, war das ein absolutes Tabuthema. Heute gibt es eine ganz andere Sensibilisierung. Das setzt auch den Sport unter Druck, anders mit dem Thema umzugehen. Die Sportverbände können nicht mehr hinter verschlossenen Türen beliebig Körper untersuchen und intersexuelle Personen aussondern. Öffentlichkeit und Rechtsprechung würden das nicht mehr so einfach hinnehmen.

Menschen das Geschlecht abzusprechen, kann sie in eine tiefe Krise stürzen.
Dennis Krämer

Dann existiert ferner eine Rassismus-Debatte: Wie wir in der westlichen Welt über die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya sprechen, unterscheidet sich grundlegend davon, wie zum Beispiel in der südafrikanischen Presse über sie gesprochen wird. Dort wird die Art und Weise, wie Semenya von den Sportverbänden behandelt wird, als starker westlicher Übergriff empfunden. Die Kritik lautet, dass unter dem Vorwand einer scheinbar legitimen medizinischen Aufklärung eine südafrikanische Frau diskriminiert werde. Das ist die andere Position, die wir hier nicht hören.

Was macht dieser Umgang und die Ausgrenzung mit den betroffenen Sportler*innen?

Die Geschichten von intersexuellen Sportler*innen wie Caster Semenya zeigen, dass der Umgang des Sports weitreichende Konsequenzen für das Leben der Personen haben kann. Menschen das Geschlecht abzusprechen, das sie ihr bisheriges Leben für natürlich gehalten haben, kann sie in eine tiefe Krise stürzen.

Die indische Mittelstreckenläuferin Santhi Soundarajan hat es in einen Suizidversuch getrieben. Sie hat nicht nur eine Medaille verloren [Anmerkung der Redaktion: weil sie bei den Asia Games 2006 durch einen sogenannten "Gender Test" fiel], sondern wurde von ihrem Umfeld geächtet, auf der Straße beschimpft und bespuckt.

Ist das binäre Geschlechterdenken im Sport überhaupt noch zeitgemäß?

Wir leben in einer Zeit, in der vieles, was traditionell als gegeben galt, stark am Bröckeln ist. Mit Blick auf das Thema Geschlecht outen sich heute immer mehr Menschen, die sich weder als weiblich noch männlich oder als das andere Geschlecht begreifen. Zum Beispiel trans, genderfluide oder nichtbinäre Personen. Geschlecht tritt in immer größerer Vielfalt in Erscheinung. Der Sport muss sich auf diese neue soziale Wirklichkeit einstellen.

Die Sportverbände sind da aber auch nicht untätig. Der Weltsportverband zum Beispiel spricht in einer aktuellen Stellungnahme über die denkbare Einführung einer intersexuellen Startkategorie. Das heißt nicht, dass diese auch bald kommen wird. Aber mit Blick auf die Geschichte des westlichen Sports ist das allein schon sehr revolutionär.