Carola Rackete schaut die Menschen nicht an, die für sie klatschen. Fast beschämt richtet die Kapitänin von Seawatch ihren Blick auf ihre Rede, die vor ihr liegt. Vor ihr stehen Parlamentarier*innen des EU-Parlaments und geben der Seenotretterin Standing Ovations. Dabei äußerte Rackete in ihrer Rede harte Kritik an der Politik an Europas Außengrenzen: "Nichts in meinem Leben war jemals so frustrierend wie der Moment, als ich den Überlebenden erklären musste, dass Europa, die sogenannte Wiege der Menschenrechte, sie nicht für wertvoll genug hält, um sie an Land zu lassen." Die Kielerin habe sich in diesen Tagen geschämt, eine Bürgerin Europas zu sein. Rackete forderte eigene Rettungsmissionen der EU auf dem Mittelmeer und die Entkriminalisierung privater Seenotrettung.

Nichts in meinem Leben war jemals so frustrierend wie der Moment, als ich den Überlebenden erklären musste, dass Europa, die sogenannte Wiege der Menschenrechte, sie nicht für wertvoll genug hält, um sie an Land zu lassen.
Carola Rackete

Gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung

Anlass für die Einladung war der sechste Jahrestag des Untergangs eines Geflüchtetenboots vor Lampedusa. 300 Menschen kamen damals ums Leben. Seitdem ertranken Tausende Menschen auf der Flucht im Mittelmeer. Bisher gibt es keine Einigung zur Verteilung der Geflüchteten in Europa; die EU selbst führt keine Rettungen durch. Organisationen und Privatpersonen wie Rackete, die eigenverantwortlich versuchen, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, müssen mit hohen Geldstrafen und Gefängnis rechnen, wenn sie Geflüchtete unerlaubt an Land bringen.

So auch Carola Rackete: Im Juni dieses Jahres widersetzte sie sich der Weisung des damaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini und lief unerlaubt in italienische Gewässer ein, um die über 40 Geflüchteten an Land zu bringen. Vorher hatten die Kapitänin und die Menschen an Bord der Seawatch 3 vor der Küste ausgeharrt. Salvini drohte den Seenotretter*innen damals mit einer Geldstrafe in Höhe von bis zu 50.000 Euro, Rackete wurde festgenommen. Durch die Entscheidung einer Untersuchungsrichterin wurde Rackete nach wenigen Tagen freigelassen und konnte Italien verlassen. Das Verfahren gegen sie läuft noch. Diese Kriminalisierung von Seenotretter*innen sei eine "Rechtsverdrehung", sagte Rackete den Parlamentarier*innen.

"Wo waren Sie alle?"

Nachdem sie im Hafen angekommen waren, hätte sie zahlreiche Einladungen und Ehrungen europäischer Länder bekommen. Sie habe sich diesen Zuspruch in der Zeit gewünscht, in der die Kapitänin mit ihrer Crew und den Geflüchteten vor Italiens Küste ausharrte. Stattdessen habe man sie aufgefordert, die Menschen zurück nach Libyen zu bringen: "Wo waren Sie alle, als wir auf allen möglichen Kanälen um Hilfe baten? Wo waren Sie, als auf die Bitte nach einem sicheren Hafen immer nur die Antwort Tripolis kam?"