Die Fotografin Debora Ruppert geht ohne einen vorgefertigten Fragenkatalog oder eine Vision eines Fotos in die Gespräche mit den Obdachlosen. Was konkret bei den Begegnungen geschieht, ist abhängig von der Situation und der zwischenmenschlichen Dynamik. Etliche Begegnungen sind aus diesem Grund nicht fotografiert oder dokumentiert, doch hin und wieder ist Ruppert erfolgreich und kann einen Menschen auf der Straße porträtieren.

Darum gehe es aber nicht in erster Linie. "Mir ist es wichtig, dass ich meine Zuwendung, Zeit, Aufmerksamkeit und Wertschätzung nicht davon abhängig machen, ob jemand bereit ist, sich fotografieren zu lassen", sagt Ruppert. Sie bliebe auch im Gespräch, wenn jemand kein Porträtfoto möchte. Manchmal unterhält sie sich mit einzelnen Menschen, mal mit einer ganzen Gruppe. Mal entstehen tiefgründige Gespräche, mal scherzen sie bloß etwas herum.

Rupperts Projekt ist spontan entstanden. Im Jahr 2009 hatte sie einen Ausstellungstermin in Wedding, für den sie den Charakter, die DNA, des Soldiner Kiezes einfangen wollte. "Dabei hat es sich schnell herauskristallisiert, dass ein Aspekt der Ausstellung Porträts von Obdachlosen sein sollte. Sie sind einfach ein Teil des Stadtbildes, zum Beispiel am Leopoldplatz", sagt Ruppert. Dass das der Startschuss für ein mehrjähriges Projekt sein würde, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Acht Jahre später hat Ruppert wahrscheinlich hunderte Obdachlose getroffen und eine Fotosammlung ihrer Porträts zusammengestellt. Die Fotos selbst lässt sie im A4-Format entwickeln und schenkt sie den jeweiligen Menschen auf den Bildern – sofern sie sie wiederfindet. "Oft fahre ich zwei- oder dreimal zu einem Ort zurück und habe kein Glück, die betreffende Person anzutreffen. Manche sind, wenn ich wiederkomme, auch so stark alkoholisiert oder stehen unter Drogeneinfluss, dass sie mich gar nicht richtig wahrnehmen", sagt Ruppert.

Doch meistens überwiege die Überraschung und das ungläubige Staunen, dass Ruppert tatsächlich wiedergekommen ist. Viele seien gerührt, sich selbst auf dem Foto zu sehen. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Obdachlosen scheint sehr auseinanderzugehen. Oft würde sich eine kleine Traube von anderen Obdachlosen bilden, die auch fotografiert werden möchten. Dass Ruppert wiederkommt, schaffe Vertrauen.

Manche zeigen die Aufnahmen auch ganz stolz ihren Kumpels. "Die Art, wie sie das Foto in den Händen halten oder manchmal an sich drücken, zeigt mir, dass es kostbar für sie ist. Ich habe in diesen Momenten das Gefühl, dass manche ihren eigenen herzlich zugewandten Blick auf dem Foto spüren und es ihnen etwas an Würde, Selbstwert und Identität zurückgibt", sagt die Fotografin.

Das sei wichtig. Denn alle Obdachlosen in ihren unterschiedlichen Wohnformen, ob auf einer Parkbank, im Zelt, unter einer Plastikplane oder etwas geschützter hinter Bäumen und Sträuchern, sind durch das Ordnungsamt bedroht. Und wüssten, dass sie an den Orten nur geduldet, aber nicht willkommen und sicher sind, erzählt sie.

Ende 2012, zum Stichtag 31. Dezember, wurden in Berlin ungefähr 11.500 Wohnungslose gezählt, sagt Dr. Thomas Specht, Geschäftsführer der Bundesarbeitsagentur für Wohnungslose. "Man muss davon ausgehen, dass ungefähr zehn Prozent davon obdachlos sind – also nirgends untergebracht sind und tatsächlich auf der Straße leben." Das seien allerdings Schätzungen. Genaue Zahlen gäbe es nicht, denn in Berlin würden keine Straßenzählungen durchgeführt. In den vergangenen 25 Jahren sind beinahe 300 wohnungslose Menschen auf den Straßen Berlins an der Winterkälte gestorben.

Der überwiegende Teil der Wohnungslosen sind Männer. "Üblicherweise kann man das Geschlechterverhältnis in 30 Prozent Frauen und 70 Prozent Männer differenzieren", sagt Specht. Warum das so ist, fand Fotografin Ruppert in Gesprächen mit Sozialarbeiter*innen heraus: In den Vorstufen zur Obdachlosigkeit – zum Beispiel bei hohen Schulden, drohendem Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung – würden Frauen eher Hilfe aufsuchen als Männer. Das können Freund*innen und Familienmitglieder oder offizielle Beratungsstellen sein. Wenn es dennoch zur Obdachlosigkeit käme, würden Privatpersonen Frauen eher bei sich aufnehmen und Unterschlupf gewähren als Männern. Außerdem würden Frauen manchmal im Tausch gegen sexuelle Dienste einen warmen Schlafplatz bei einem Mann erhalten.

Rupperts Porträtreihe ist eine starke, emotionale Einsicht in das Leben von Berliner Obdachlosen. Auch wenn diese nicht immer viel von sich preisgeben und in die Kamera lächeln, in ihren Gesichter zeichnet sich ab, wie schwer das Leben auf der Straße sein muss.

Udo – Berliner Hauptbahnhof/Moabit

Udo ist Mitte 50, es ist jetzt sein dritter Winter auf der Straße. Früher war er Eventmanager. "Bei Udo merkte ich, dass er sich selbst nicht aufgegeben hat. Er hat die Hoffnung nicht verloren, kämpft, schmiedet Pläne für die Zukunft. Die Zeit auf der Straße sieht er nur als Übergangszeit", sagt Deborah.

Er lebt in einem Zelt am Spree-Ufer direkt im Regierungsviertel. Sein Zeltnachbar war früher Facility-Manager bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Am Spree-Ufer koexistieren extreme Kontraste: In Zelten lebende Männer und Frauen, im Hintergrund das Bundeskanzleramt und der Reichstag. Diese Extreme, arm und reich, mächtig und ausgegrenzt, treffen auf einem Quadratkilometer direkt aufeinander.

Udo hat einen strukturierten Tagesablauf. An seinem festen Badetag geht er einmal in der Woche am Berliner Hauptbahnhof duschen – für fünf Euro, die er sich in der Woche davor erbettelt hat. Er steht jeden Tag zur etwa selben Zeit auf, macht sich einen Kaffee auf einem Gaskocher und putzt sich die Zähne. Von ungefähr 9 Uhr bis 16 Uhr geht er dann arbeiten, wie er sagt: Er setzt sich auf seinen Stammplatz am Berliner Hauptbahnhof und wartet bis Passant*innen Geld in seinen Hut werfen.

"Als ich Udo zum ersten Mal treffe, sitzt er auf seinem Stammplatz auf einer Brücke, die vom Berliner Hauptbahnhof direkt zum Bundeskanzleramt führt. Er ist gerade in ein Gespräch mit einem Bundestagsabgeordneten vertieft. Udo ist faszinierend eloquent, er hat einen wachen, hellen Geist und ist nahbar und authentisch. Während wir uns über sein altes Leben, seinen Job, seine Exfrau und seine Tochter unterhalten, kommt eine andere junge Bundestagsabgeordnete vorbei und schenkt ihm einen Kaffee. Die beiden kennen sich. Diese Geste ist mittlerweile zum Ritual geworden. Er erzählt mir mit einem Lächeln, jemand hätte ihm einmal den Namen Brückenkanzler gegeben", erzählt Ruppert.

"Daniel" – Containerbahnhof/Friedrichshain

Ruppert trifft auf diesen Mann in einer Notunterkunft, einer Traglufthalle mit dem Namen HalleLuja in Berlin, Friedrichshain. Hier können vom 1. November bis 31. März von 21 Uhr bis 8:30 Uhr jeweils 100 Obdachlose Zuflucht vor der Kälte finden, duschen, frühstücken und zu Abend essen. An einigen Tagen kommen auch ein Arzt und ein Zahnarztmobil vorbei. In der Halle sind es im Winter zwischen 20 und 25 Grad. Wegen seines Aussehens würde er von den Mitarbeiter*innen, wie auch von den anderen Obdachlosen Jesus genannt werden.

Er kommt aus Ungarn und sei sein ganzes Leben lang immer wieder vertrieben worden. Er stellt sich der Fotografin als Daniel vor, aber sagt im nächsten Atemzug, dass dies nicht sein Geburtsname sei. Allerdings sehe er in seinem Leben sehr viele Parallelen zum Leben von Daniel aus dem Alten Testament. Wie Daniel aus der Bibel lebe auch er im Exil und hätte Situationen erlebt, in denen er sich wie in einer Löwengrube gefühlt hätte. Jesus habe eine sehr friedvolle, tiefe und sanfte Ausstrahlung, sagt Ruppert.

Tarek – Schönhauser Allee/Prenzlauer Berg

Tarek lebt auf dem Bürgersteig an der vierspurigen Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg. Dort hat er zusammen mit seinem Kumpel Christoph sein Lager vor einem Wohnhaus aufgeschlagen. Wenn es regnet oder schneit, ziehen sie eine blaue Plastikplane über sich, damit sie nicht so nass werden. Nur wenige Meter von ihnen entfernt donnert die U-Bahn im Fünf-Minutentakt vorbei. Obdachlose, die mitten im wohlhabenden Familienkiez Prenzlauer Berg auf der Straße schlafen.

Tarek kam von Polen nach Deutschland, um hier Arbeit zu finden. Er arbeitete einige Monate auf dem Bau. Doch eines Tages schlief er nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause in der S-Bahn ein. Als er aufwachte, war sein Rucksack mit all seinen Papieren weg – geklaut. Ohne Papiere fand er keine Arbeit mehr und ohne Arbeit keine Wohnung. Zurück nach Polen wollte er nicht. Nun lebt er auf der Straße.

Mario – Containerbahnhof/Friedrichshain

"Manche Obdachlose, die man in Notunterkünften trifft, sehen so gepflegt aus, dass, wenn man ihnen auf der Straße begegnet, niemals denken würde, sie seien obdachlos", sagt Ruppert. So zum Beispiel Mario. Sein Vater kommt aus Kuba, seine Mutter gehört zu den Sinti. Er ist Straßenmusiker und laut Ruppert sehr charmant, intelligent, aufgeweckt und freundlich. Gleichzeitig kämpfe er mit Alkoholismus.

Teufel – Bahnhof Zoo/Charlottenburg

Ruppert lernte Teufel im Mai 2015 kennen. Viele Männer und Frauen auf der Straße haben Spitznamen: zum Beispiel Keule, Blondie, Zecke. Er stellte sich als Teufel vor, auch seine Kumpels nannten ihn so.

Er kommt aus Osteuropa und spricht nur gebrochen Deutsch, sein Humor wirke aber sehr sympathisch. Ruppert und Teufel verständigten sich daher mit Händen und Füßen. Er lebt unter einer Brücke am Bahnhof Zoo. Zum Zeitpunkt des Treffens standen dort sieben kleine Campingzelte, in denen er und andere Männer und Frauen aus Polen, der Ukraine und Weißrussland lebten.

Ohne Namen – Containerbahnhof/Friedrichshain

Ruppert traf diesen Mann in einer Notunterkunft für Obdachlose in Friedrichshain. Er erzählte ihr, dass er sich ganz bewusst für die Stadt Berlin entschieden hätte, weil er sie liebe, wie man unschwer an seiner Mütze erkennen kann.

Ohne Namen – Tiergarten/Charlottenburg

Diese Straßenkinder leben in einfachen Zelten im Tiergarten, zum Zeitpunkt des Fotos war es tiefster Winter. Sie sind wie eine kleine Familie und "machen zusammen Platte". Ihre Zelte stehen dicht aneinandergereiht. In einem vergleichsweise großem Zelt mit einer Art Vorzelt treffen sie sich regelmäßig zum Kartenspielen und Abhängen, die kleineren Zelte sind zum Schlafen gedacht. Der Jüngste der Familie ist 13 Jahre alt (nicht auf dem Foto zu sehen). "Wir haben uns lange unterhalten, über ihre Herkunftsfamilien, Deutschland, Geflüchtete und Politik. Das, was sie aus ihren persönlichen Biographien erzählten, hat mich tief bewegt", sagt die Fotografin.

Dieter – Bahnhof Zoo/Charlottenburg

Dieter lebt seit 1982, also seit mehr als 30 Jahren, auf der Straße. Er hatte zwischenzeitlich eine Wohnung und auch einen Job, aber durch den Kampf mit der Alkoholsucht hat er das alles verloren.

Anonym – Kottbusser Tor/Kreuzberg

Diese junge Frau wechselte nur wenige Worte mit der Fotografin, sie sei sehr vorsichtig und zurückhaltend gewesen. "Ich finde, sie hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Eine außergewöhnliche Schönheit, Tiefe und Sensibilität. Ich fragte mich öfter, was ihr alles auf ihrem Lebensweg begegnet sein muss, dass ich sie am Kottbusser Tor, inmitten von stark alkoholisierten Männern und einigen Junkies, getroffen habe. Ich fragte mich, was ihr widerfahren ist, dass der Kotti ihr Zuhause geworden ist. Ich konnte es nicht herausfinden."

Anonym – Alexanderplatz/Mitte

Das ist das erste Porträt, mit dem Debora Ruppert 2009 ihr Projekt begann. Sie lernte diesen jungen Mann aus Osteuropa am Alex kennen. Er saß im Rollstuhl und hatte beide Beine verloren. "Ich weiß nicht, was ihm passiert ist, ich habe auch nicht nachgefragt, da ich nicht in seine Privatsphäre eindringen wollte. Ich wusste in dem Moment nur, dass ich ihn porträtieren wollte – seinen Charakter, seine Persönlichkeit."

Nach dem Kennenlernen habe sie öfter nach ihm Ausschau gehalten, aber leider nie wieder getroffen. Diese Begegnung sei mittlerweile acht Jahre her und "manchmal, wenn ich über den Alex laufe, denke ich an ihn und frage mich, wie es ihm geht und ob er noch lebt."

Anonym – Kottbusser Tor/Kreuzberg

"Dieses Pärchen lernte ich am Kottbusser Tor in Kreuzberg kennen. Ich erzählte ihnen von meinem Projekt und sie fanden es spannend. Sie wollten gerne mitmachen."

Besitz und Nahrung

Manche besitzen einen oder mehrere Schlafsäcke und Decken, manchmal eine Isomatte. Obdachlose, die in Zelten leben, richten es sich oftmals so gut es geht wohnlich ein, zum Beispiel mit Filz und einem Teppichboden, um sich etwas gegen die Kälte zu schützen. Grabkerzen dienen als Lichtquelle und als Heizung. Indem sie Steine auf den Metalldeckel der Grabkerzen legen, heizen sie sich auf, speichern die Wärme und geben sie über Stunden hinweg langsam wieder ab. Somit dienen sie als eine Art selbst konstruierte Ofenheizung und können die Wärme im Zelt konstant auf etwa 20 Grad über mehrere Stunden hinweg halten.

Andere besitzen nur das, was sie am Körper tragen oder haben ganz persönliche Schätze bei sich. Wie etwa ein Foto ihrer Kinder, ein Buch oder etwas anderes, das sie an ihr altes Leben erinnert. Viele Obdachlose haben einen vollbepackten Einkaufswagen, Rollator, Kinderwagen, Koffer oder Plastiktüten, mit ihrem gesamtem Hab und Gut. Denn wer nicht ständig alles mit sich herumträgt, wird bestohlen – nicht nur von anderen Obdachlosen. Udos Handy wurde zum Beispiel aus dem Zelt geklaut, während er schlief. Ein weiterer Grund, warum sich manche bewusst dazu entscheiden, in Gruppen zu zelten. Dadurch bekommt man nicht nur Gesellschaft, sondern ist auch sicherer. "Sie passen aufeinander und auf die Habseligkeiten auf", erzählt Ruppert. Manche verdienen sich sogar ein paar Euro auf der Baustelle oder als Fahrradmechaniker dazu, wobei die Arbeitgeber*innen oftmals nicht wüssten, dass derjenige wohnungslos ist.

Es gibt verschiedene Kleiderausgabestellen in Berlin. So zum Beispiel die Notunterkünfte der Berliner Stadtmission, wo auch Decken und Schlafsäcke ausgegeben werden. Auch der Wärmebus des Deutschen Roten Kreuzes, der vom 1. November bis zum 31. März unterwegs ist, verteilt neben heißem Tee und Kaffee auch Isomatten, Schlafsäcke und Decken. Neben den Schenkungen von Passant*innen und gefundenen Essensresten aus den Mülleimer, sind Obdachlose zudem auf die Berliner Essensausgabestellen angewiesen.

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