Wer der Influencerin und Nachhaltigkeitsaktivistin Madeleine Daria Alizadeh alias Dariadaria auf Instagram folgt, kennt ihre Küche aus den Storys nur zu gut. Dort tanzt, hüpft und singt sie regelmäßig vor der Kamera – im Pyjama, in Unterwäsche oder im Yoga-Outfit. Dazu schreibt sie: "Günstigste Form von Stressabbau" oder "Hilft mir immer, wenn ich eine emotional schwierige Phase habe: Mache ich Musik an, lächle und tanze die Probleme weg". Auf ihrem Blog erklärt sie, dass das Tanzen neben dem Ölziehen zu ihrem täglichen Morgenritual gehöre: Mit guter Musik, einem Ritual und Bewegung in den Tag zu starten, sei für sie eine leichte Art, den Tag gut und positiv anzugehen.

Auch die Nachhaltigkeitsbloggerin Charlotte Weise schwört auf die Wirkung des Tanzens. Sie schreibt zu einem Tanzvideo auf Instagram: Tanzen werde gegen Demenz, fehlendes Selbstbewusstsein und Depression eingesetzt und gebe den Menschen viel. Die Influencerin veranstaltet Tanzevents. Mit dem Tanzen hat sie ihre Follower*innen bereits angesteckt, viele tun es ihr gleich und markieren sie in ihren Videos.

Shake it off?

Stress und schlechte Laune einfach wegzutanzen, davon sind einige Influencer*innen und Instagramer*innen überzeugt und zeigen sich selbst regelmäßig dabei. Immer mehr schwingen ihr Tanzbein, ob langsam und bedacht, sinnlich oder wild herumhüpfend. Glaubt man ihren Bildunterschriften, macht ihnen das nicht nur Spaß, sondern hat auch einen psychologischen Effekt: Tanzen soll gegen Stress helfen und ein besseres Verhältnis zum eigenen Körper aufbauen.

Auch die Autorin Jaqueline Scheiber, die sich Minusgold nennt, tanzt regelmäßig in den sozialen Medien. Sie tanzt im Wohnzimmer im 90er-Jahre-Outfit oder im Badezimmer beim Zähneputzen. In einem Video erklärt sie, warum sie diese ungeschickten Tanzvideos, wie sie sie nennt, von sich macht:

Nicht nur, weil ich Musik liebe und sie fühle, sondern weil ich immer dachte, tanzen wäre etwas, das für fließende Bewegungen und normschöne Körper reserviert ist.
Jaqueline Scheiber

Bewusst zu tanzen habe sie vor ein paar Jahren begonnen, als sie zu Hause auszog und ihre erste eigene Wohnung ihr Zuhause nannte, erklärt sie im Interview. Vor eineinhalb Jahren entschied sie sich, ihr Tanzen auch auf Instagram zu zeigen, denn: "Beim Tanzen steht der Körper im Fokus. So wie mit allen Bereichen, die dem Körper und der Bewegung unterliegen, sind diese schnell mit Ästhetik, Leistung und Schönheit verknüpft." Die Videos zu veröffentlichen, war eine Überwindung für sie. "Ich hatte das Gefühl, mich dadurch verletzlicher zu machen. Es ist ein Unterschied, ob man aus 15 Bildern eins auswählt, auf dem man sich am besten gefällt und dann mit der Welt teilt, oder ob man an einem intimen Moment teilhaben lässt."

Tanzen sei nicht nur für Frauen mit Taktgefühl und knackigen Hintern reserviert, betont sie. Tanzen könne jede*r. Ob müde, ob außerhalb des Taktes. Ob Frau, Mann, non-binary. Ob mit Behinderung oder ohne. Der Mythos, dass dicke oder gesundheitlich eingeschränkte Personen nicht tanzen könnten, halte sich nach wie vor, betont Jaqueline Scheiber. Die Bilder, die in der Gesellschaft und in den Medien mit Tanzen in Verbindung gebracht werden, seien oft objektifizierend und sexualisiert. Wie in vielen anderen Belangen sei es ein Lernprozess, sich von diesen festgeschriebenen Vorstellungen zu lösen. "Tanzen hat in erster Linie für mich nicht die Funktion, ästhetisch und glatt zu sein."

Ist Tanzen das neue Yoga?

Dass Bewegung in Verbindung mit Musik eine Möglichkeit darstellt, den eigenen Körper kennenzulernen und zu akzeptieren, liegt nahe. Aber warum sich dabei filmen? Auch dafür hat Jaqueline Scheiber eine Erklärung: "Mich beim Tanzen zu filmen hat mir zusätzlich geholfen, meine Selbstwahrnehmung zu stärken. Bei Ess- und Wahrnehmungsstörungen werden im therapeutischen Setting oft Videoaufnahmen eingesetzt, um Betroffenen ein 'realistisches' Bild ihrer selbst zu spiegeln." Mit dem Appell an andere will sie ein diverses Bild zeigen und Menschen sichtbar machen, die sich bewegen, ohne Leistungsanspruch und ohne Ästhetik als Vorgabe zu haben.

Mich beim Tanzen zu filmen hat mir zusätzlich geholfen, meine Selbstwahrnehmung zu stärken.
Jaqueline Scheiber

Macht Tanzen wirklich gesund?

Der Mensch tanzte bereits, bevor er schreiben konnte. Aber hilft Tanzen auch nachweislich gegen Stress? Der Musikkognitionsforscher Gunter Kreutz betont gegenüber Spiegel Online, dass jede Form der Bewegung erst mal gut tue. Und: "Ja, sich zu Musik zu bewegen, sei es nach Tanzschritten oder frei, wirkt entspannend und ist eine Wohltat für die Seele."

Daten von Studien, die das beweisen, wurden meist beim Paartanz erhoben und zeigen, dass Tanz tatsächlich das Demenzrisiko senken kann, sogar noch stärker als Kreuzworträtsel lösen oder lesen. Auch bei multipler Sklerose und Parkinson erwiesen sich Tanztherapien als wirksam. Tanzen gegen Stress funktioniert durch die Psyche, da sich Menschen beim Tanzen von negativen Gefühlen und Empfindungen distanzieren können. Geht das zu Hause vor dem Spiegel also genauso wie im Technoclub auf der Tanzfläche?

Gunter Kreutz bejaht: "Tanzen hilft vielen Menschen, mit ihrem Alltagsstress besser umzugehen. Denn auch wenn man alleine tanzt, gibt einem die Bewegung im Rhythmus eine fast schon familiäre Geborgenheit."

Wer selbst die Musik laut aufdreht und zu den heimlichen Lieblingssongs durch die Wohnung tanzt, wird sehen, wie ungewohnt das erst mal ist. Wann tanzt und hüpft man schon ohne Anlass, ohne Gesellschaft und ohne Alkohol einfach so herum? Je öfter man tanzt, desto befreiter fühlt es sich an. Sich dabei zu filmen, kann man jedoch getrost den Influencer*innen überlassen.