Nach der #b2908-Demo in Berlin nahm Sänger Henning May auf Instagram Polizist*innen in Schutz. Das Akronym ACAB, All Cops Are Bastards, mache ihn wütend. Seine Wut geht in die falsche Richtung, findet unsere Autorin. Ein Kommentar

In den vergangenen Wochen wurden lauter Fälle von (rassistisch motivierter) Polizeigewalt bekannt, unter anderem gegen Minderjährige in Hamburg und Düsseldorf. Am vergangenen Wochenende wüteten nun Zehntausende Rechtsextreme, Rassist*innen und Antisemit*innen unter dem Vorwand einer Demonstration gegen die Maßnahmen, die Menschen vor den Folgen der Corona-Pandemie schützen sollen, durch Berlin. Unter den Redner*innen waren drei bayrische Polizisten.

Viele meiner Freund*innen trauten sich in diesen Tagen nicht auf die Straße. Sie fühlten sich unsicher.

Daher habe ich aufmerksam mitgelesen, als der Musiker Henning May, bekannt als Sänger der Band AnnenMayKantereit, auf Instagram zur Lage der Nation seine Meinung kundtat. Als Mensch mit Rassismuserfahrung hätte ich mir von dem Prominenten folgendes Statement gewünscht: Die Umstände in diesem Land machen mich wütend. Wir dürfen rassifizierte Menschen und aktive Antifaschist*innen nicht mehr alleine lassen. Wir brauchen einen antifaschistischen Konsens in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens. Rassistische Polizeigewalt ist kein Einzelfall. Der Kampf rassifizierter Menschen gegen strukturellen Rassismus und Antisemitismus ist bedingungslos zu unterstützen.

Punkt.

Doch Hanning May hat eine Bedingung für seinen Antirassismus. Und zwar: Pauschalisiert die armen Polizist*innen nicht! Oder mit seinen eigenen Worten:

Die Institution Polizei trägt das Problem des strukturellen Rassismus mit

Die Abkürzung ACAB (in der Regel als Akronym verwendet für die Formel All Cops Are Bastards) macht Henning May also wütend.

Wütendsein ist natürlich nicht verboten, genauso wie die Parole ACAB nicht verboten ist. Das Bundesverfassungsgericht entschied im Mai 2016, dass sie als allgemeine Äußerung von der Meinungsfreiheit abgedeckt sei, da damit eine "allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht" zum Ausdruck gebracht würde. Beleidigend sei dies nur, sobald sie sich auf eine "hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe" beziehe.

Antirassist*innen haben in Deutschland ein anstrengendes Schicksal: Sie sind dazu verdammt, sich wie eine kaputte Kassette zu wiederholen, wie meine liebe Mutter sagen würde. In den letzten Monaten haben sie im Zuge der transnationalen Black-Lives-Matter-Bewegung unermüdlich und geduldig erklärt, was diese ganze Rassismuskritik soll: Dass Rassismus etwa kein Problem von Einzelmenschen oder von individuellen Vorurteilen und Ausgrenzungen ist, sondern ein Ordnungssystem, das historisch gewachsen ist. Es beeinflusst nicht nur alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens, sondern es strukturiert sie. Unser selektives Bildungssystem, unser Arbeitsmarkt, unsere Einwanderungspolitik funktionieren nur, weil rassistische Logiken in Kombination mit sexistischen, kapitalistischen und anderen Systemen – fest verankert in Normen, Gesetzen und Institutionen – Menschen hierarchisieren. In dieser Ordnung wird manchen Körpern mehr Wert zugesprochen als anderen.

Eine dieser Institutionen, die diese Logiken mitträgt, ist die Polizei: Sie hilft maßgeblich – auch mit Gewalt – dabei, diese Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie schiebt Geflüchtete ab. Sie hat in der Vergangenheit dabei geholfen, Streiks von Arbeitenden, die für mehr Lohn und ein menschenwürdiges Leben protestierten, gewaltsam zu beenden. Und so weiter. Die Liste ist lang.

Der Fehler liegt also im System. Alle Polizist*innen, die diese Strukturen mittragen, sind mitverantwortlich. Menschen, die Diskriminierung erfahren, haben keine Wahl. Doch Polizist*innen haben sie. Sie entscheiden sich aus freien Stücken für ihrem Job.

Rassistische Gewalt ist in der Institution Polizei kein Error in einem sonst zum Schutz aller Menschen funktionierenden Systems. Sie wird strukturell produziert und geschützt. Rechtsextreme Polizeinetzwerke wie NSU 2.0 werden bislang nicht konsequent bekämpft und aufgedeckt. Die Ermittlungen zu den Todesumständen von Geflüchteten wie Oury Jalloh oder Amad Ahmad, die in Dessau und Kleve in Polizeizellen verbrannten, werden seit Jahren von den Behörden erschwert. Im Juli dieses Jahres starb der Geflüchtete Mayouf Ferhat in der JVA Moabit. Die Umstände sind ungeklärt.

Verdachtsunabhängige, rassistische Polizeikontrollen, sogenanntes Racial Profiling, sind eine übliche Polizeipraxis. Es gibt keine externe Untersuchungsinstanz für Fälle rassistischer Polizeigewalt. Polizist*innen ermitteln gegen kriminelle Polizist*innen, und das nicht gerade sehr erfolgreich. Das liegt auch an einer aktiv geförderten und an den Polizeischulen gelehrten Kumpelkultur, die Kritiker*innen aus den eigenen Reihen als Abtrünnige und Verräter markiert.

Der Fehler liegt also im System. Und alle Polizist*innen, die diese Strukturen mittragen, sind mitverantwortlich. Menschen, die Diskriminierung erfahren, haben keine Wahl. Doch Polizist*innen haben sie. Sie entscheiden sich aus freien Stücken zu ihrem Job. Sie sind keine Opfer. Es gibt innerhalb der Polizei keine kritische Kultur im Umgang mit diesen Problemen, mit wenigen Ausnahmen, wie etwa PolizeiGrün e.V, der sich laut eigenen Angaben die Förderung einer toleranten, kritikfähigen und rechtsstaatlichen Bürgerpolizei zum Ziel gesetzt hat.

Selbst wenn es diese Kritikkultur gäbe, würde das nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Institution Polizei ja gerade dafür da ist, den politischen Status quo mitsamt seiner diskriminierenden Strukturen und Ungleichheiten aufrechtzuerhalten. Die Polizei ist nicht dafür da, dass Gesellschaften gerechter werden. Ihre Hauptfunktion ist auch nicht, Gewalt zu verhindern. Da werden wohl auch Polizeifans zustimmen müssen: Sie ist dafür da, erst im Nachhinein einer Gewalttat dabei zu helfen, dass die Täter*innen bestraft werden. Und das ist eine der Kernkritiken abolitionistischer Bewegungen in den USA: Sie setzen sich dafür ein, dass die Polizei entwaffnet wird, dass sich rassifizierte Communitys durch Hilfsnetzwerke von etwa Sozialarbeitenden selber helfen und schützen. Sie wollen, dass Ressourcen, die für die Finanzierung der Polizei aufgebracht werden, in präventive Maßnahmen investiert werden – kurz: Sie wollen, dass aktiv daran gearbeitet wird, die Institution der Polizei überflüssig zu machen und (schrittweise) aufzulösen.

Die Analyse "Zum Glück haben wir die Polizei" nach der #b2908-Demo ist verkürzt

Diese Forderungen nahmen manche zum Anlass, die Ereignisse am Wochenende in Berlin ironisch zu kommentieren, à la: Ja ja, seht ihr! Zum Glück wurde die Polizei nicht abgeschafft! Wer hätte uns dann in den letzten Tagen geschützt! Wer hätte das Reichstagsgebäude, das Herz unserer Demokratie, geschützt, als eine Horde von Rechten es stürmen wollte?

Wer das liest, könnte denken, dass die Entmachtung der Polizei in Deutschland tatsächlich mal zur Debatte gestanden hätte. Die Forderung nach einem grundlegenden politischen Umdenken und danach, etablierte Wahrheiten auf den Prüfstand zu stellen – in diesem Falle bei der Gewaltbekämpfung mehr auf Prävention statt auf Bestrafung zu setzen – führt hierzulande bekanntermaßen oftmals zu blanker Panik. Dieselben Leute, die sonst Pauschalisierungen richtig blöd finden, haben kein Problem mit solch verkürzten Analysen: Unsere Gesellschaft hat ein Problem mit Rechtsextremismus und daher brauchen wir dringend die Polizei, die auch ein Problem mit Rechtsextremismus hat!

Das erinnert mich an folgende Argumentationslinie: In einem korrupten Land spendiert ein korrupter Politiker von dem korrumpierten Geld ein Krankenhaus. Und alle sagen: Seht ihr! Es muss alles bleiben, wie es ist! Zum Glück sind wir ein korruptes Land, sonst gäbe es dieses schöne Krankenhaus nicht!

Viele scheinen darauf gewartet zu haben, die Polizei endlich wieder in Schutz nehmen zu können

Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass viele Menschen nur darauf gewartet haben, die Institution Polizei nach den letzten Monaten mit Forderungen nach Differenzierung und Wohlwollen endlich mal wieder auch öffentlich in Schutz nehmen zu können. Plötzlich werden in den sozialen Medien Rufe nach Dankbarkeit für die Polizei laut. Die Autorin auf Twitter Hatice Akyün verkündet sogar, sich in einen Polizisten verliebt zu haben, der auf einem Foto dabei zu sehen ist, wie er auf der Berliner Demonstration den Faschisten Attila Hildmann abführt.

Doch was hat es mit all diesen Schmetterlingen im Bauch auf sich? Haben manche Twitter-User*innen und Henning May einfach nicht zugehört und mitgelesen, als die kaputten Kassetten in den letzten Monaten liefen? Wollen sie einfach nicht verstehen, was eine Kritik an struktureller, systematischer Polizeigewalt bedeutet? Und warum es nicht die Priorität von antirassistischen Bewegungen sein kann, Polizist*innen, die ihren Job machen oder privat eigentlich ganz nett sind, zu feiern? Warum haben sie das Bedürfnis, mit solcher Leichtsinnigkeit die Formeln wie ACAB und Praktiken des Widerstandes von Antifaschist*innen als wertlos ad acta zu legen?

Ich mutmaße mal: Erstens, weil sie als weiße, wohlsituierte und anders privilegierte Menschen den Luxus haben, sich mit Polizist*innen zu solidarisieren, anstatt von ihnen bedroht zu werden. Und: Weil es in die beliebte Erzählung der Einzelfälle passt. Wenn wir davon ausgehen, dass Rassismus und Gewalt bei der Polizei ein Problem einer spezifischen Gruppe von Beamt*innen ist, sind wir als Gesellschaft von der Verantwortung befreit, uns mit dem Rassismus, der unseren Institutionen und Normen zugrunde liegt, von Grund auf auseinanderzusetzen, seine Ursprünge und Wirkweisen zu verstehen und komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen. Stattdessen beschränkt sich der Antirassismus vieler auf ein wenig Privilegien checken hier, ein wenig barfuß Musik machen dort – und hops, die Welt ist schön. Und Rassismus ist dann nur noch ein Problem, das andere betrifft.

Und nicht zuletzt liegt dem Instagram-Post von Henning May eine typische Täter*innen-Opfer-Umkehr zugrunde, mit der sich aktive Antirassist*innen ständig herumschlagen müssen: Eure Kritik ist ja schön und gut, aber ihr seid halt zu pauschalisierend! Zu radikal! Ihr könnt ja gar nicht differenzieren! Ihr habt ja selber Vorurteile! Das gute alte Aber, auch beliebt in dieser Form: Ich würde ja echt gerne mit auf eure antirassistische Demo kommen, aber ich finde es echt doof, dass zwei Leute ACAB auf ihren T-Shirts stehen haben.

Henning May und Co. sollten sich fragen: Was sollte mich wirklich wütend machen?

Das alles bedeutet nicht, dass Kritik an politischen Widerstandspraxen nicht erlaubt ist – ganz im Gegenteil: Politische Bewegungen leben von ihrer Selbstkritik und praktizieren sie unermüdlich. Zum Beispiel ist die Formel All Cops Are Bastards auch unter Antirassist*innen und Polizeikritiker*innen umstritten, weil eine Herabsetzung durch die Zuschreibung Bastard eine sexistische und auch rassistische Geschichte hat.

Bei der Kritik an dem politischen Widerstand gegen Rassismus und Polizeigewalt sind also folgende Fragen wichtig: Wer äußert die Kritik? Aus welcher Position heraus? Sind es Menschen, die sowieso Teil der Bewegung sind und sich seit Jahren aktiv engagieren, obwohl ihr Leben und ihre Familien bedroht werden? Oder unbeteiligte Außenstehende? Und dient diese Kritik dazu, die Bewegung stärker zu machen, anstatt den Fokus und die Prioritäten der Kritik zu verschieben? Oder kommt die Kritik von Menschen, die Teil einer weißen, bürgerlichen Dominanzgesellschaft sind, die schon vor langer, langer Zeit hätte anfangen müssen, sich bedingungslos mit rassifizierten Menschen und Antifaschist*innen zu solidarisieren?

Ich mag mich wieder wie eine kaputte Kassette fühlen, wenn ich das schreibe. Aber, lieber Henning May und andere, spätestens jetzt ist die Zeit, sich zu fragen: Was sollte mich wirklich wütend machen? Ich hoffe, dass die Antwort dann nicht aus vier Buchstaben besteht.