Wenn ich jemandem erzähle, dass ich laufen war, kommt oft: "Könnte ich nicht. Ich hasse joggen." Meistens verdrehe ich dann nur innerlich die Augen und denke seufzend "Okay, na dann geh halt einfach nicht laufen." Aber manchmal sage ich: "Das habe ich auch mal gedacht."

Und dann erzähle ich diese Geschichte. Sie fängt an im Sommer 2008. In Peking sind Olympische Spiele, in Köln, wo ich zu dem Zeitpunkt wohne, ist es schwül und ich stehe unter der Klimaanlage in einem Fitnessstudio. Hinter mir Menschen auf Crosstrainern, vor mir ein Bildschirm mit Blick auf ein Schwimmbecken in Peking.

Was für ein großartiges Gefühl das sein muss, die Beschleunigung des eigenen Körpers durch sich selbst.

Männer mit Kreuzen wie Eichenbäume durchpflügen das Becken, als könnten sie sich selbst überholen. Ich sehe sie schwimmen. Wie schön das aussieht. Was für ein großartiges Gefühl das sein muss, die Beschleunigung des eigenen Körpers durch sich selbst. Ich werde neidisch, komme mir ungenügend vor, 20 Wiederholungen Butterfly, aber leichtes Gewicht, weil ich nicht mehr schaffe, dann 30 Wiederholungen an der Beinpresse. Gefolgt von Crunches, weil Crunches sind besser als Sit-ups. Oder war es andersrum? Das weiß ich nicht, das ist auch egal. Ich will kein Sixpack. Ich will etwas durchpflügen.

Minutenlang sehe ich zu. Ich will das auch. Aber ich hasse schwimmen, denke ich plötzlich, und weiß, dass ich wohl nicht herausfinden werde, ob das stimmt. Die Schwimmer winden sich am Ende der Bahn wie Aale und glitschen in die nächste Runde. Ich drehe mich um, ein Mitarbeiter steht zwischen den Crosstrainern (Ist er ein Crosstrainer-Trainer?) und guckt mich an, irgendwie vorwurfsvoll, scheint mir. Noch am selben Tag kündige ich meine Mitgliedschaft.

Ich beschließe, Läuferin zu werden

Wieder zu Hause mache ich als erstes das einzig Vernünftige in so einer Situation: Ich melde mich zu einem Halbmarathon an. Drei Monate habe ich Zeit. Gar kein Problem.

Drei Tage später, ich war gerade zehn Minuten laufen, kommen mir einige Gedanken:

1. Joggen macht keinen Spaß.

2. Ausdauersport ist eh nur was für sehr simple Menschen.

3. Halbmarathon laufen nur Beamt*innen, die viel lieber was anderes wären, aber bei gleicher Bezahlung.

4. Ich möchte jetzt Eis. Erdnussbutter-Eis.

Einen Proteinshake später habe ich mich abgeregt und google nach Trainingsplänen. Und ich laufe weiter. Abends schreibe ich "Jog" in rot neben viele Tage in meinen Kalendar. Zweistellige Zahlen machen mir Sorge: zehn Kilometer, zwölf, 15. Ich laufe sie trotzdem alle, meine Socken saugen sich mit Blut voll. Und plötzlich bin ich stolz, anders als je zuvor. Fühlt sich Arnold Schwarzenegger so, wenn er ein Haus hochhebt? Oder eine Schwimmerin, wenn sie sich wie ein Aal bewegt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Wenn das der Lohn ist, laufe ich weiter.

Ich bin schon auch eine faule Socke

Drei Monate später stehe ich zwischen Fremden und drücke ein Kohlenhydratgel (Geschmack: Ananas) aus einem kleinen Alubeutel in meinen Mund. Unnötig, weiß ich, aber es gibt mir das Gefühl, etwas tun zu können, in einem Moment, in dem es nichts zu tun gibt: Die Minuten vor dem Startschuss. Zu früh zum laufen, zu spät zum trainieren, perfekt zum Gel-Einsaugen. Sonst stehe ich nur rum und denke an die Tage, an denen ich meine Trainingsziele nicht eingehalten habe, weil ich schon auch eine faule Socke sein kann.

Und dann laufe ich. Knapp 22 Kilometer bis zum Ziel. Als ich nach anderthalb Kilometern schon keine Lust mehr habe, fängt es an zu regnen. Mein rechtes Knie fängt bei Kilometer sechs an zu stechen, meine Füße brennen, mein Magen krampft sich zusammen, das Gel war eine Schwachsinnsidee, vollkommen klar. Was das soll, frage ich mich, warum tue ich mir das an? Aua. Ich bin umgeben von Schmerz, alles tut weh und ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll. Ich balle meine Hände zu Fäusten und bin erstaunt darüber, wie gut das tut. Jetzt ist die Zeit, meinen Schmerz zu durchpflügen, fällt mir auf. Und ich laufe weiter, als könnte ich mich selbst überholen.

Im Ziel denke ich, wie bekloppt das war. Wie ätzend. Und: geil.

Liebe ist kein einfaches Gefühl

Und irgendwo zwischen diesen Gefühlen habe ich angefangen, das Laufen zu lieben. Liebe ist kein einfaches Gefühl. Wenn es überhaupt ein Gefühl ist. Etwas zu lieben heißt schließlich nicht, es zu jeder Tages- und Nachtzeit toll zu finden. Etwas zu lieben heißt, eine Zuneigung zu pflegen, die selbst dann nicht kaputtgeht, wenn alles nur noch wehtut.

Nach diesem ersten Halbmarathon bin ich noch etliche Läufe gelaufen, auch einen ganzen Marathon. Das Training dafür war so grässlich, dass ich nicht darüber schreiben kann, ohne dass es mich schüttelt. Ich habe mich auf keinen der Läufe gefreut und hinterher war ich erst froh, als ich mich nach Hause geschafft hatte.

Laufen ist anstrengend, Laufen tut weh, ein Marathon zerschrottet die Knie. Tap, tap, tap. Immer das gleiche. Tap, tap, tap. Laufen macht rammdösig. Tap, tap, tap. Und dann erwischt man einen Blick auf sich selbst in der Spiegelung eines Schaufensters und hofft, niemandem zu begegnen, die*den man kennt. Peinlich. Laufen ist nervig, andere Jogger*innen auch. Hunde sowieso. Das alles ist Laufen. Tap, tap, tap.

Aber Laufen ist eben auch dieses Gefühl, wenn die Beine trotz alledem einfach weitermachen. Wenn man sich fragt, wie das denn ist mit den Neuronen, die Signale senden von Hirn an Muskulatur und ob das gerade überhaupt noch passiert, oder ob die Beine einfach übernommen haben.

Tap, tap, tap zu sich selbst

Und plötzlich blendet die Sonne und ich sehe, wie schön doch eigentlich die Wiese da hinten ist, diese sonst so triste Rasenfläche. Tap, tap, tap. Inspiriert von den Beinen läuft plötzlich mein Herz über die Wiese und macht Flickflack. Tap, tap, tap. Und dann biegt mein Kopf ums Eck und schreibt im Sprint Einkaufszettel, formuliert Emails, pitcht Netflix-Serien, nimmt Oscars entgegen, schreibt Artikel.

Klingt nach New Age und massiver Verkopfung? Aber so fühlt es sich nicht an. Ich entspanne nirgends so sehr wie beim Laufen. Es ist das wohlig-absurde Gefühl, wegzulaufen und immer bei sich zu bleiben. Tap, tap, tap zu sich selbst.