Der Mensch sehnt sich nach Geschichten, aus denen er Motivation fürs Leben schöpfen kann, das war schon immer so, das wird immer so bleiben. Doch manchmal sehnt sich der Mensch so sehr nach diesen Geschichten, dass er seine Umwelt vergisst. Ein Drohnenvideo, das diese Woche viral ging, zeigt, wie gefährlich diese Rücksichtslosigkeit sein kann.

Der Clip, der vergangene Woche auf YouTube landete und später durch mehrere Tweets und Facebookpostings millionenfach aufgerufen wurde, zeigt eine Bärenmutter mit ihrem Baby. Die beiden versuchen, einen steilen, von Schnee bedeckten Berghang in der Magadan-Region in Russland hochzuklettern. Während die Mutter es beim ersten Versuch schafft, hat ihr Kind es ungleich schwerer. Es rutscht immer wieder ab, hat sichtlich Schwierigkeiten – erst nach mehreren Minuten gelingt ihm der Aufstieg.

Viele lesen in dem kurzen Video eine Erfolgsgeschichte darüber, dass man alles schaffen kann, dass kein Berghang steil genug ist und teilten es mit empowernden Sprüchen: "Wir alle können von diesem Bären lernen: Schau hoch und gib niemals auf." Doch Wissenschaftler*innen und andere Drohnenpilot*innen lesen etwas anderes aus diesem Video heraus: Die Geschichte eines Kamerateams, das keinen Respekt vor der Tierwelt zeigte und sich beinahe für den Tod eines Babybären schuldig machte.

Die Drohne versetzte die Bären in Panik

Wer sich das Verhalten der Bären genauer ansieht, bemerkt, dass sie durch die Drohne in ihrem Verhalten beeinflusst werden. So blickt die Mutter während des Videos mehrmals in Richtung Kamera. Den traurigen Höhepunkt erreicht das Ereignis, als der kleine Bär seine Mutter fast erreicht (ab 1:10 Minute im Video): Das Kamerateam steuert, offenbar um den Moment der Wiedervereinigung besser einzufangen, die Drohne näher an das Bärenpaar heran. In diesem Moment holt die Mutter aus, faucht nach der Drohne, der kleine Bär blickt einmal kurz über die Schulter – und rutscht ab, weiter als bisher, bis knapp vor eine Klippe, wo er zu seinem Glück Steinboden unter die Füße bekommt.

Das Magazin The Atlantic sprach mit mehreren Expert*innen über das Video. Sie sind sich einig: Das Verhalten der Kameraleute brachte die Bären in eine gefährliche Situation. Clayton Lamb von der Universität Alberta erforscht Grizzlybären und hinterfragt bereits die Entscheidung der Mutter, über den steilen, rutschigen Berghang nach oben zu klettern. "Es gibt keinen Grund für eine Bärenmutter, dieses Risiko einzugehen, es sei denn, sie wurde dazu gezwungen", sagt Lamb. Er geht davon aus, dass sie die Drohne schon lange über sich bemerkte. Die Annäherung des Objekts habe sie wahrscheinlich als Angriff gewertet, weshalb sie fauchte und versuchte, ihr Baby wegzudrücken – wodurch dieses sich erschreckte und erneut abrutschte.

Expert*innen wünschen sich verantwortungsvolle Drohneneinsätze bei Wildtieraufnahmen

Biolog*innen tippten darauf, die Mutter hätte die Drohne für einen Adler gehalten. Lamb hingegen sagt, sie fühlte sich durch ein lautes, merkwürdiges Objekt angegriffen. Drohnen seien aus der Nähe lauter, als viele vermuteten.

Dabei ist der Drohneneinsatz zur Dokumentation oder zur Forschung laut der Ökologin Sophie Gilbert von der Universität Idaho keineswegs infrage gestellt. Sie erforscht unter anderem, wie Drohnen Tiere beeinflussen. So seien sie in vielen Fällen sicherer und sogar weniger aufdringlich. Statt auf einen Baum zu klettern, um ein Nest filmen zu können, könnte das eine Kamera mit guter Zoom-Funktion aus der Luft erledigen.

Allerdings brauche es verbindliche Richtlinien, damit die Tiere dadurch nicht unter Stress gesetzt würden, wie im aktuellen Fall. Eine Studie zeigte etwa, dass der Herzschlag von Schwarzbären drastisch anstieg, als Drohnen über ihre Köpfe hinweg flogen. In den USA wurden Drohnen in Nationalparks verboten.

Mehr als Verbote brauche es aber Aufklärung und Konsens unter Drohnenpilot*innen, sagt Ökologin Gilbert, die unter anderem eine YouTube-Playlist mit Beispielen für Drohneneinsätze erstellte. Erste Forscher*innengruppen legten Guidelines für die Drohnenverwendung fest. Laut Gilbert solle man strategisch überlegen, für welche Tierarten der Drohneneinsatz Sinn ergebe, weshalb sie sich dort einen Forschungsschwerpunkt setzte.

Bis dahin hofft sie auf den gesunden Menschenverstand und die Empathie von Drohnenpilot*innen. Wenn ein Babybär Schwierigkeiten habe, sei es verantwortungsvoll, die Drohne zurückzuziehen. Das beste Beispiel dafür ist das virale Video: Als die Drohne weit zurückweicht, schafft der kleine Bär den Aufstieg zu seiner Mutter und die beiden können weiterziehen.