"Ich bin jedes Mal erstaunt, wie viele Jugendliche von eigenen Erfahrungen oder denen ihrer besten Freund*innen erzählen", sagt Henrike Krüsmann. "Gewalt in irgendeiner Form ist der Alltag vieler Jungen und Mädchen, Studien zeigen: Sie geht meist von Gleichaltrigen aus", weiß auch Andrea Buskotte. Ist von Gewalt in einer Partner*innenschaft die Rede, entsteht meist automatsich das Bild von zwei Erwachsenen: Dem Mann als Täter und der Frau als Opfer. Dass das nicht immer so ist, wird im öffentlichen Verständnis nur langsam klarer: Gewalt kann von jedem*r ausgehen, Gewalt kann jedem*r widerfahren.

Henrike Krüsmann ist Koordinatorin der Bereiche Kinder und Jugendliche sowie täterorientierte Intervention bei BIG, der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Andrea Buskotte ist als Referentin bei der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen tätig. Beide wissen, dass viele junge Menschen während ihren ersten Beziehungen schon Gewalt erfahren. Und beide arbeiten daran, Bewusstsein zu schaffen, aufzuklären und die sogenannte Teen Dating Violence durch Prävention zu vermeiden. Auch, wenn sie dabei an unterschiedlichen Stellen ansetzen.

"Mit Jugendlichen über Sexualität und Gewalt zu reden, fällt schwer"

Andrea Buskottes Arbeit beginnt bei Schulen, pädagogischen Fachkräften und der Wissenschaft. "Mit Jugendlichen über Sexualität und Gewalt zu reden, fällt allen Beteiligten schwer – egal, ob Pädagog*in, Mutter oder Vater." Darüber zu reden, damit meint sie vor allem, zu vermitteln: "Wenn dir Gewalt widerfährt, ist das nicht deine Schuld und es ist in Ordnung, sich Hilfe zu suchen. Und wenn du selbst Gewalt ausgeübt hast, musst Du dafür die Verantwortung übernehmen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit der Wiedergutmachung oder eine Gelegenheit, um Entschuldigung zu bitten."

Um Pädagog*innen in Bildungseinrichtungen dabei zu unterstützen, bietet die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen Fortbildungen und Unterrichtsmaterial für Fachkräfte an. "Weil es schwer ist, ist es umso wichtiger, dass Profis sich in dem Thema sicher fühlen. Dann finden sie auch Gelegenheit, mit den Jugendlichen darüber zu sprechen", so Buskotte. Dass Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen die Relevanz von Teen Dating Violence verkennen, unterstellt die Referentin ihnen aber keinesfalls. "Es gibt in der Fachwelt eine sehr etablierte Diskussion über sexuellen Missbrauch und Gewalt. Dort wird auch die Größenordnung des Problems wahrgenommen."

Über 60 Prozent der Jugendlichen erfuhren laut Studie beim Dating Grenzüberschreitungen

Tatsächlich legen Studien gravierende Ergebnisse vor: Laut einer Befragung der Philipps-Universität Marburg hat fast jede*r zweite Jugendliche schon einmal nicht-körperliche Formen sexualisierter Gewalt erlebt, knapp ein Viertel körperliche. Noch eindeutigere Zahlen zeigt eine Studie der Hochschule Fulda, die sich explizit auf Teen Dating Violence bezieht. Fast zwei Drittel der befragten Mädchen mit Dating-Erfahrung gaben an, schon Grenzüberschreitungen erlebt zu haben, bei den Jungen waren es 60,1 Prozent. In der Gesellschaft sei das noch nicht angekommen, meint Buskotte: "Der Ausmaß sexueller Gewalt wird generell unterschätzt." Dabei könne das Erlebte gerade bei jungen Menschen dramatische Folgen haben – zum Beispiel Scham- und Schuldgefühle, ein ramponiertes Selbstwertgefühl, Depressionen und andere gesundheitliche Konsequenzen.

"Es gibt eine Art Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern"

Henrike Krüsmanns Wissen kommt aus der Praxis. Sie macht an Schulen Workshops mit den Jugendlichen selbst, und das seit einigen Jahren. Das, was sie dabei immer wieder hört, schockiert die studierte Sozialarbeiterin: "Ich habe den Eindruck, bei vielen Schüler*innen gibt es eine Art Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern." Frauen kümmern sich später um die Kinder, Männer müssen die Familie versorgen. Dieses Verständnis übertrage sich auch auf Sexualität und Partner*innenschaft. "Wir versuchen den Jugendlichen nahezulegen: Bei Liebe geht es um Vertrauen und Respekt, nicht um Kontrolle. Eifersucht ist kein Zeichen für Sorge und Interesse", sagt Krüsmann.

Wir versuchen den Jugendlichen nahezulegen: Bei Liebe geht es um Vertrauen und Respekt, nicht um Kontrolle.
Henrike Krüsmann, Sozialarbeiterin

Der*die Partner*in schreibt ihnen vor, was sie anziehen und mit wem sie sich treffen dürfen, kontrolliert Nachrichten am Handy. Das sind Geschichten, von denen viele Schüler*innen bei den Workshops immer wieder berichten. Die meisten nehmen das noch nicht als Gewalt wahr. "Wir tragen ihnen eine Gewaltdynamik an 18 Punkten vor, die von Punkt zu Punkt schlimmer wird", erklärt Krüsmann einen Bestandteil ihres Workshops. "Viele würden erst beim zwölften aussteigen." Die Berliner Initiative BIG versucht, die Jugendlichen zu sensibilisieren – auch und vor allem die, von denen potenziell Gewalt ausgeht. Und will Betroffenen zeigen, wie und wo sie sich Hilfe holen können. Gerade in der Gegenwart Gleichaltriger sei das Thema oft schambesetzt und die Hemmschwelle, zu Einrichtungen zu gehen, sehr hoch.

Krüsmann nimmt Schulen in die Verantwortung

Anders als Andrea Buskotte hat Krüsmann nicht das Gefühl, dass Schulen sich stark genug gegen Probleme wie Teen Dating Violence positionieren. "Der Kinderschutz ist hier, meiner Erfahrung nach, noch nicht wirklich auf der Agenda." Da gerade Gewalt in Beziehungen meist in der Freizeit der Schüler*innen stattfinde, sehen sich viele Schulen hier nicht wirklich in der Verantwortung. Oft seien Lehrer*innen auch nicht mit Anzeichen und Handlungsabläufen von sogenannter Kindeswohlgefährdung vertraut. "Wenn nicht bekannt ist, was zu tun ist, wird es oft lieber nicht gesehen."

Hier findest du Hilfe

Außerdem auf ze.tt: Das kannst du tun, wenn du Opfer häuslicher Gewalt bist