Jährlich nehmen sich weltweit beinahe eine Million Menschen das Leben. Zwischen 15 und 30 Millionen versuchen es. In jüngeren Bevölkerungsgruppen sind Suizide nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache. In Deutschland und Österreich sterben mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle.

Eine Netflix-Serie für mehr Aufklärung

In Anbetracht dieser gravierenden Zahlen scheint es notwendig, die Thematik in die öffentliche Diskussion zu bringen. Genau das wollten die Macher*innen von Tote Mädchen lügen nicht mit ihrer Netflix-Serie erreichen: das Thema Suizid bewusst zum Gesprächsthema machen. In der Serie nimmt die 17-jährige Hannah Baker 13 Audiokassetten auf, auf denen sie die Gründe für ihren Suizid erklärt und diese den Verantwortlichen nach ihrem Tod zukommen lässt. Autor Nic Shell äußerte sich im April 2017 ausführlich zu der Netflix-Produktion: Es gehe darum, das Thema offen und direkt zu behandeln, anstatt es totzuschweigen und zu zeigen, dass ein Suizid keine Erlösung, sondern qualvollen Horror darstelle.

Die Realität sieht anders aus

In der Realität scheint die Serie jedoch anderes bewirkt zu haben: Eine Studie belegt, dass die Google-Anfragen zum Thema Suizid in den USA signifikant angestiegen sind. In den 19 Tagen nach der Veröffentlichung der ersten Staffel im März 2017 beschäftigten sich 900.000 bis 1,5 Millionen Suchanfragen mehr mit dem Thema Suizid. Konkret handelte es sich um Anfragen wie "how to commit suicide" oder "how to kill yourself". Es gab Meldungen von Schüler*innen, die sich selbst verletzten und als Begründung die Serie angaben.

Bei Beratungsstellen gingen vermehrt Anrufe und E-Mails ein, die sich direkt auf die Sendung bezogen. Der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychatrie wurden bereits erste suizidale Krisen und Suizide gemeldet, die in direkter Beziehung zu der Serie stehen sollen. Es wurde sogar von zwei Suizidfällen berichtet, in denen die Familien der Suizid-Opfer einen starken Zusammenhang zwischen Tote Mädchen lügen nicht und der Selbsttötung sahen.

Schon Goethe löste Ähnliches aus

Die Vermutung und Befürchtung darüber, dass Suizidberichte Nachahmungshandlungen auslösen könnten, existiert schon seit Jahrhunderten. Durch den von Johann Wolfgang von Goethe 1774 publizierten Roman Die Leiden des Jungen Werther trat die Eventualität medial vermittelter Nachahmungs-Suizide ins öffentliche Bewusstsein. Das Buch löste unter Jugendlichen ein regelrechtes Werther-Fieber aus, das so weit führte, dass sie nicht nur die Kleidung und Ausdrucksweise kopierten, sondern auch den Suizid nachahmten. Daher kommt auch der Begriff des Werther-Effekts für die Kumulation von Suizidalhandlungen nach Berichten über reale Suizide oder der Darstellung fiktiver Modelle.

Auch deshalb klingelten bei ärztlichem Fachpersonal und Gesundheitsorganisationen weltweit die Alarmglocken: Psycholog*innen in den USA raten ausdrücklich davon ab, Tote Mädchen lügen nicht zu sehen, da die Sendung psychische Probleme hervorrufen und verstärken könnte. Die Serie wurde an mehreren kanadischen Schulen verboten und in Neuseeland dürfen Minderjährige die Serie nur im Beisein eines Erziehungsberechtigten sehen. Im Juli 2017 forderte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte die sofortige Absetzung der US-Serie, da sie eine erhebliche Gefahr für labile und psychisch kranke junge Menschen bedeute. Und trotzdem erscheint diesen Freitag eine zweite Staffel von Tote Mädchen lügen nicht auf Netflix.

Tote Mädchen lügen nicht thematisiert zwar wichtige Inhalte ...

In sozialen Netzwerken zeichnete sich schnell ab, wie stark die Meinungen zur Sendung auseinanderdrifteten. Es schien, als ob psychisch gesunde Personen die Sendung für ihre Offenheit und den Umgang mit Themen wie Mobbing und sexueller Belästigung positiv hervorhoben. Vor allem fanden sie in ihr einen Ansporn zu mehr Nächstenliebe und Empathie und wollten ihr Handeln in Zukunft überdenken – die Macher*innen konnten also das bewirken, was sie mit der Serie erreichen wollten. Der andere, große Teil kritisierte die Sendung für ihre Verantwortungslosigkeit. Wenn ich mich in die Lage eines pubertierenden Mädchens versetze, das sich in einer Identitätskrise befindet und von Mitschüler*innen unfair behandelt wird, so ist es sehr einleuchtend, weshalb diese Serie stark triggern kann.

… aber macht fast alles falsch

Die Serie ist zwar durchaus ein Aufruf zur besseren Kommunikation und thematisiert wichtige Inhalte wie Slut- und Victimshaming sowie Mobbing, aber missachtet dabei so gut wie alle internationalen Leitlinien für den medialen Umgang mit Suizid. Besonders problematisch ist die detaillierte Darstellung des Suizids: Die Protagonistin Hannah liegt perfekt gestylt in der Badewanne, holt noch einmal tief Luft und schneidet sich ihre Pulsadern auf. Das Wasser färbt sich rosarot und die vollen Locken fallen über den Badewannenrand. Anfängliches Hyperventilieren weicht ruhiger Atmung – der Akt ist nahezu ästhetisch dargestellt. Statt Schmerzen und Leid sehen die Zuschauer*innen, wie Hannah ihre Ruhe findet. Auch die Folgen ihrer Entscheidung werden romantisiert: Hannah ist durch ihre Kassetten allgegenwärtig und so fühlt es sich nie so an, als wäre sie wirklich tot. Der Serie gelingt es nicht, den Suizid als Tragödie darzustellen.

Suizid als einzige Lösung und Rachefeldzug

Ein weiteres Problem der Serie ist, dass keinerlei Hilfe bei dem Thema angeboten, sondern Suizid als einziger Ausweg dargestellt wird. Tote Mädchen lügen nicht schafft es bis zum Schluss nicht aufzuzeigen, dass der Freitod eigentlich keine Lösung sein sollte. Hannah redet weder mit ihren fürsorglichen Eltern über ihre Gefühlslage, noch vertraut sie sich einem Freund an. Der einzige Mensch, an den sie sich wendet, ist der Schulpsychologe, der vollkommen inkompetent reagiert, indem er – statt näher auf ihre Suizidabsichten einzugehen – Hannah die Schuld an ihrer Vergewaltigung zuschiebt und versucht, sie von einer Anzeige abzubringen.

Die Serie stellt einen Selbstmord als ultimative Lösung dar und stellt den starken Racheimpuls Hannahs in das Zentrum. Ihr gelingt es nicht, zu Lebzeiten für ihr Recht einzustehen und potenzielle Helfer*innen für sich zu aktivieren. Stattdessen führt sie einen Rachefeldzug, um alle, die ihr geschadet haben, zu bestrafen. Dabei stellt die Serie zu wenig heraus, wie falsch und dekonstruktiv Hannahs Handeln gegenüber ihren Mitmenschen war, die verstört zurückbleiben: Einer bereitet einen Amoklauf vor, der andere will selbst Suizid begehen und so weiter.

Die Botschaft, die Netflix vermittelt, ist fragwürdig. Der Suizid wird pervers optimistisch dargestellt, nicht als irrationaler Akt, sondern als etwas Nachvollziehbares mit positivem Ergebnis. Tote Mädchen lügen nicht liefert die ultimative Lösung für eine*n Teenager*in, dessen*deren größter Wunsch es ist, geschätzt und bemerkt zu werden: Nach ihrem Suizid bekommt Hannah die Anerkennung und Reue, die sie zu Lebzeiten gebraucht hätte. Die Serie bietet damit eine große Projektionsfläche für Jugendliche mit psychischen Problemen und erweckt den Eindruck, Suizid sei die einzige Lösung, um Gerechtigkeit zu erfahren.

Die Forschung spricht für sich

Einige Forscher*innen haben den Versuch unternommen, durch empirische Studien den Zusammenhang medialer Suizid-Berichterstattung und Nachahmungshandlungen nachzuweisen, wie Clemens Stampf in seinem Buch Werther-Effekt zusammenfasst. Den Ausgangspunkt für die Erforschung bildet die Studie des US-amerikanischen Soziologen D.P. Phillips, der 1974 die kausale Verbindung zwischen medialen Berichten und Suizidrate nachweisen konnte. Phillips konnte zeigen, dass die Suizidziffern in Großbritannien und den USA nach Berichterstattung über die Selbsttötung eines Prominenten anstiegen. Je größer der Bekanntheitsgrad der Person war, desto deutlicher konnte sich ein Effekt abzeichnen.

Spätere Studien zeigten, dass Prominenz kein nötiger Faktor ist und nach Zeitungsberichten über Suizide nichtprominenter Personen ebenfalls ein Anstieg der Suizidrate zu verzeichnen war. Zahlreiche Forschungsbefunde sprechen auch für einen Effekt fiktionaler Suizidarstellungen. So konnte nach der Ausstrahlung des ZDF-Films Tod eines Schülers eine starke Zunahme von Suiziden verzeichnet werden. Die Suizid-Rate stieg bei den 15- bis 19-jährigen männlichen Jugendlichen um 175 Prozent an, bei den Frauen im selben Alterssegment um 167 Prozent.

An die Macher*innen: Werdet euch eurer Verantwortung bewusst!

Auch wenn Suizidursachen immer multifakoriell bedingt sind, ist die Suggestivwirkung von Medien unumstritten. Es ist wichtig, suizidale Krisen als Ausdruck großer Not zu beschreiben und darüber hinaus Geschichten von Menschen zu erzählen, die Lebenskrisen erfolgreich bewältigen konnten. Dabei sollten immer die Leitlinien für den medialen Umgang mit Suizidalität beachtet und auf eine glorifizierende und romantisierende Berichterstattung sowie explizite Details zur Suizidmethode verzichtet werden. Trotz der wissenschaftlichen Befunde zum Werther-Effekt verletzen die Macher*innen von Tote Mädchen lügen nicht all diese Leitlinien.

Die Serie verfolgt durchaus gute Absichten und ruft zu einem respektvolleren Miteinander auf. Sie zeigt, dass Themen wie Slut- und Victimshaming keine Bagatellen sind, sondern in ihrer Summe Gründe für einen Suizid sein können. Trotzdem hat die Serie ihren Bildungsauftrag verfehlt. Die Handlung wird durch eine zu positiv dargestellte Protagonistin unnötig glorifiziert und bietet somit Platz zur Identifikation. Besonders in Hinsicht auf die zweite Staffel, die am 18. Mai veröffentlicht wird, bleibt zu wünschen, dass sich die Produzent*innen ihrer pädagogischen Verantwortung noch bewusster werden.

Hilfe holen

Falls du unter Depressionen leidest und dich Suizidgedanken plagen, findest du bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen. Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.