Immer mehr Menschen bekennen sich dazu, trans* zu sein. Psycholog*innen und Kliniken beobachten einen starken Anstieg von Menschen, die aufgrund einer sogenannten Geschlechtsdysphorie Beratungsangebote wahrnehmen und sich in Therapie begeben, um eine Geschlechtsangleichung vornehmen zu lassen. Woher kommt diese Entwicklung?

ZEIT-Autor Martin Spiewak mutmaßt in einem aktuellen Artikel, dass sich die Diagnose, durch einen "mediale[n] Medienwahn" befeuert, wie "ein seltsames Virus" ausbreitet.

Über solche absurden und gewaltvollen Äußerungen kann Ella nur den Kopf schütteln. Sie ist die Mutter der 8-jährigen Luisa, einem trans* Mädchen. Ella vermutet, dass sich die Zahl der trans* Personen im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten nicht verändert habe. Doch durch stärkere Akzeptanz und einen regen Diskurs in den Medien würden sich inzwischen mehr junge Menschen trauen, sich als trans* zu outen. "Sehr lange wurden trans* Menschen als krankhaft, verkanntes Schwulsein oder therapiebedürftig angesehen. Aber in den letzten Jahren ist die Akzeptanz größer geworden. Genauso wie der Mut von trans* Menschen, diese Akzeptanz auch einzufordern."

Wissen schafft Freiheit

Doch nicht nur die Kinder selbst würden sich über Youtube und Social Media mit Transgender auseinandersetzen. Ella beobachtet, dass viele Eltern durch die stärkere Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit bewusster auf ihre trans* Kinder eingehen können. "Nach einem kurzen anfänglichen Wundern widmen sich Viele der Recherche und stoßen dort inzwischen auf viele Informationen. Sie möchten ihre Kinder verstehen und dazu ermutigen, so zu leben, wie sie es möchten."

Ihre Tochter habe natürlich nicht zu ihr gesagt, dass sie trans* sei. Das Wort kenne Luisa erst seit Kurzem. Trotzdem habe sie ihren Eltern klar signalisiert, wie sie ihr Leben führen möchte. Schon im Kindergarten, mit drei Jahren, war Luisa ein bisschen anders als andere Jungs. Sie trug gerne Nagellack und wenn sie mit Mädchen spielte, beobachtete Ella eine ganz bestimmte Nähe zwischen Luisa und den anderen Kindern. "Das waren ganz diffuse Sachen, die mir zu großen Teilen auch erst im Nachhinein aufgefallen sind." Als die Kindergartenkinder Luisa sagten, Rosa sei nur für Mädchen, erklärte Ella ihr, alle Farben seien für alle Kinder.

Aber man merkte, wie diese Zuschreibungen in Luisa arbeiteten. Irgendwann fragte sie dann, ob sie Kleider anziehen dürfe. Daraufhin nähte Ella das erste Kleid für ihr Kind. "Zuerst hat Luisa einfach die Kleider angezogen und war trotzdem weiterhin ein Junge." Im Sommer vor der Einschulung fuhr die Familie nach Berlin. Und Luisa fragte: "Mama, darf ich als Mädchen nach Berlin fahren?" Daraufhin suchte sich das Kind ihren Namen aus und stellte sich ab da überall damit vor: Luisa. Am Ende des Sommers wurde sie als Luisa eingeschult.

Bis zur dritten Klasse hatte Luisa nahezu keine Probleme mit Mitschüler*innen. "Wahrscheinlich, weil den Kindern jetzt erst bewusst wird, was genau an Luisa anders ist als bei anderen Mädchen", vermutet Ella. Sie ist ein wenig enttäuscht davon, wie wenig Eigeninitiative von Seiten der Schule kommt. "Einerseits gibt es einen großen Willen zu unterstützen, andererseits legen die sich auch selber Steine in den Weg." Bei der Frage, welche Toilette Luisa benutzen dürfe, habe sich das deutlich gezeigt. "Es liegt völlig im Ermessen der Schüler*innen und Lehrer*innen, wie sie ihre Toiletten kennzeichnen oder ob es Unisextoiletten gibt", erzählt Ella. Trotzdem habe Luisa nicht einfach die Toilette benutzen können, die sie gerne benutzen wollte: die Mädchentoilette. "Da gibt es in Deutschland keine Vorschriften und gerade deshalb fällt es der Schule schwer, Entscheidungen zu treffen. Da fehlen die Vorschriften als Orientierung."

Einmal, erzählt Ella, sei sie in einem Gespräch mit der Schule gefragt worden, ob Luisas Identität nicht ein Eingriff in die Schöpfung Gottes sei. Am liebsten hätte sie der Person erwidert: "Ja, deine Dauerwelle aber auch!", gesteht Ella.  Sie beobachtet, dass es Lehrkräften oft schwerfällt, auf Luisas individuelle Bedürfnisse einzugehen. So sei es für Luisa zum Beispiel ungleich schlimmer, wenn ihr im Sportunterricht die Hose runtergezogen würde. "Das ist nicht nur eine Ärgerei, sondern steht in einem ganz anderen Kontext." Seit sie in der Umkleide von Mitschüler*innen angegangen und gehänselt wurde, zieht Luisa sich vor dem Sportunterricht in einem separaten Raum um. Trotzdem hat Ella das Gefühl, dass Luisa bisher viel Unterstützung erfahren hat: "Ich glaube, die Schwierigkeiten kommen erst noch. Bisher hatten wir kaum welche und ich habe die Befürchtung, dass es gerade erst anfängt."

Trans* ist keine Sexualität

Auch außerhalb der Schule kann Ella bisher von mehrheitlich positiven Reaktionen auf Luisas Identität berichten. Ein paar Menschen zeigten sich irritiert darüber, dass Luisa bereits so früh äußerte, dass sie ein Mädchen sei. Ihre Entscheidung dazu sei allerdings bisher nicht in Frage gestellt worden. "Ein paar Mal kam allerdings der Kommentar, sie sei kein richtiges Mädchen", erzählt Ella. Aber sie und Luisas Vater hätten den Personen daraufhin klar gemacht, dass sie solche Äußerungen nicht akzeptieren würden, denn: "Geschlechtsidentität findet im Kopf statt und nicht zwischen den Beinen!"

Geschlechtsidentität findet im Kopf statt und nicht zwischen den Beinen!
Ella

Generell stört Ella oft, wie unsensibel viele Menschen mit ihrer Sprache umgehen, wenn es um trans* Menschen geht. Darum korrigiere sie die Menschen regelmäßig, wenn jemand von Transsexualität spricht.  Transidentität oder -geschlechtlichkeit habe schließlich nichts mit der Sexualität zu tun. Inzwischen wundere sie sich immer häufiger darüber, in welchen Situationen sie ihr Geschlecht angeben muss: "Warum interessiert das meine Bank?"

Nichts geht ohne Intersektionalität

Für die Zukunft hofft Ella darauf, dass die Awareness für die Existenz von trans* Menschen weiter wächst und dass die Relevanz des Geschlechts immer geringer wird. "Wenn ich Königin von Deutschland wäre, würde ich mir wünschen, dass Geschlecht im Alltag überhaupt keine Rolle mehr spielt." Außerdem sei der aktuelle Therapieprozess, den trans* Menschen vor einer Hormonbehandlung oder einer operativen Geschlechtsangleichung durchlaufen müssen, eine Zumutung. "Natürlich ist es wichtig, dass Menschen sich der Tragweite dieses Eingriffs bewusst sind. Aber wenn dort in einem entwürdigenden Therapieprozess intimste Fragen gestellt werden, geht das für mich gar nicht!"

Außerdem müsse die Akzeptanz noch weiter zunehmen. Medien müssten anfangen, sich mit transinklusiver Sprache zu beschäftigen und Betroffene mehr zu Wort kommen lassen. Und soziale Bewegungen wie der Feminismus müssten sich noch stärker darauf konzentrieren, auch diejenigen mitzudenken, die nicht in das zweigeschlechtliche Muster passen. "Ich kann nicht für die Gleichstellung von Männern und Frauen sein, ohne die Gleichstellung aller Menschen mitzumeinen. Ganz egal, welche Geschlechtsteile sie zwischen den Beinen haben."