Eine große, schlanke Frau mit blonden Haaren in kurzem Jumpsuit und Sandaletten. Viktoria* sitzt in einem Restaurant irgendwo in Rheinland-Pfalz und zieht einige Blicke auf sich. Sie ist transident und steckt mitten in ihrem körperlichen Angleichungsprozess. Das erkennt man zwar erst auf den zweiten oder dritten Blick, viele Menschen reagieren aber immer noch negativ auf ihr Erscheinungsbild.

Viktoria hat für ihr Leben, so wie es jetzt ist, gekämpft und auf dem Weg alles verloren, was ihr einmal wichtig war: Ihre Beziehung, Familie, Freund*innen und ihre Kirchengemeinde. Eines aber kann man ihr nicht nehmen: Ihren tiefen Glauben an Gott und dass doch einmal alles gut für sie werden kann.

Zehn Minuten Mädchensein

Viktorias Leben fühlt sich für sie schon immer etwas anders an. Die heute Mittedreißig-Jährige wächst in einer fundamental christlichen und evangelikalen Gemeinde auf. Schon früh ist ihr klar, dass sie nicht der Junge sein kann, den alle in ihr sehen. Sie besorgt sich heimlich Mädchenkleider und rennt nach dem sonntäglichen Gottesdienst immer besonders schnell nach Hause, um sie zusammen mit dem Lippenstift ihrer Mutter anzuprobieren. Genau zehn Minuten Zeit bleiben ihr für ihr wöchentliches "sie selbst sein".

Irgendwann wird ihre Mutter durch die rote Farbe im Waschbecken auf das Versteckspiel aufmerksam. Sie redet mit Viktoria über ihr Anderssein. Dass sie lieber Mädchenkleider tragen und lange Haare haben will, kann ihre Mutter nur schwer mit ihrer religiösen Überzeugung vereinbaren. Für die evangelikalen Christ*innen existieren mit Mann und Frau nur die Geschlechter, die in der Bibel festgeschrieben stehen. Wenn Viktoria heute über die Einstellung ihrer Mutter spricht, ist ihr ihre große Enttäuschung anzumerken. Trotzdem wirkt sie milde: "Ich hatte sonst eine Kindheit, von der andere träumen. Ich will ihr keinen Vorwurf machen, sie hat dieses starre biblische Denken."

Als Viktoria älter wird, versucht sie ihr Anderssein zu überspielen. Sie versichert sich und ihrer Mutter immer wieder, das Frausein sei nur ein Hobby. "Meine Mama hat öfter meine weiblichen Kleider im Schrank gefunden und nachts weinend auf meinem Bett gesessen. So habe ich sie dann angetroffen", erinnert sich Viktoria. Sie wechselt oft ihren Job, immer aus Angst davor, dass jemand ihre geheime Transidentität enttarnen könnte. Sie entdeckt das Modeln für sich, geht zu Shootings, sowohl als äußerlicher Mann als auch als die Frau, die sie eigentlich ist.

Auf ihrem Smartphone hat sie einige Bilder gespeichert, sie muss nicht lange danach suchen. Die Fotos, auf denen sie auch äußerlich als Frau zu erkennen ist, zeigt sie mit Stolz: "Du wächst daran, wenn die Leute positiv auf dein Äußeres reagieren". Wenn sie sich die Bilder mit ihrem männlichen Aussehen anschaut, wird sie nachdenklich: "Ich weiß, dass ich das bin, oder dass ich das einmal war. Es war ein Lebensabschnitt aber ich bin froh, dass dieses Doppelleben jetzt vorbei ist".

Albtraum Zwangsouting

Viktoria bestellt eine Cola und beobachtet das Treiben auf der Terrasse des Restaurants. Ihre Augen sind tiefblau, sie trägt dezenten Lidschatten und rötlichen Lippenstift.

Als ihre Transidentität an die Öffentlichkeit gelangt, beginnt ihr schlimmster Albtraum. Ihr Outing konnte sie nicht selbst bestimmen, es geschah während eines Gerichtsprozesses. Als ihre letzte Beziehung zu Ende geht, erhebt ihr*e Partner*in** Stalkingvorwürfe gegen sie. Im schriftlichen Gerichtsverfahren bringt sie ein, dass sich Viktoria in psychologischer Behandlung befindet. Gemeint sind die verpflichtenden begleitenden Maßnahmen im Zuge ihres beginnenden Angleichungsprozesses, die sie nun offen erklären musste.

Der Großteil ihrer Familie erfährt so zum ersten Mal von ihrer Transidentität. Dabei hätte Viktoria ihnen gerne zu einem späteren Zeitpunkt selbst davon erzählt. Dass ihre frühere Beziehung ihren verletzlichsten Punkt für das Verfahren verwendet, enttäuscht Viktoria heute noch. "Hätte ich keinen transidenten Hintergrund, würde mich das gar nicht interessieren, ich weiß, dass ich unschuldig bin und würde das Verfahren soweit es geht ignorieren."

Der ständige emotionale Druck setzt ihr zu. Weil ein Bekannter in der gleichen Firma angestellt ist wie Viktoria, geht sie nicht mehr zur Arbeit – aus Angst, noch mehr Menschen könnten von dem Prozess und der Transidentität erfahren. Heute lebt sie von Arbeitslosenhilfe. Eine Zwischenlösung, aber das Beste für sie, bis sie ihr Leben wieder neu ordnen kann.

Transidentität: Ein nichtchristliches Leben?

"Das ist Sünde", "Du kommst in die Hölle", "Du bist eine Schande für die Familie". Sätze, wie Stiche in Viktorias Herz. Nachdem sie ihre äußerliche Angleichung beginnt, eine Hormontherapie startet und sich die Barthaare epilieren lässt, kommt der Vorstand ihrer christlich-evangelikalen Gemeinde auf sie zu. Viktoria erklärte ihre Transidentität, worauf sie aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Als offizielle Begründung heißt es, die seelsorgerischen Probleme seien zu weit fortgeschritten.

Als auch die Gemeindemitglieder und ihr christliches Umfeld nach und nach von ihrer Transidentität erfahren, erreichen sie schlimmsten Anfeindungen aus der Kirche. Dem Ort, von dem sie eigentlich Nächstenliebe und Unterstützung gewohnt war. Viktoria solle sich von den Kindern in der Gemeinde fernhalten. Auch heute noch haben die Erwachsenen Angst davor, ihr vermeintlich sündiges Verhalten könnte auf ihre Kinder abfärben, erzählt sie.

Auch Rückhalt von ihrer Familie blieb aus. Vor einem Jahr stirbt Viktorias Vater und das Verhältnis zu ihrer Mutter verschlechtert sich. Sie will nicht, dass ihr "Sohn" sie in Frauenkleidung und Make-up im Gesicht besucht. "Als Hobby wäre es für sie in Ordnung gewesen. Dass es Bestandteil meiner Identität ist, kann sie nicht akzeptieren", sagt Viktoria. Als ihr jüngerer Brüder sie bei einem Familienessen fragt, wann sie endlich mit dem "Schwachsinn" aufhöre, wird es ihr endgültig zu viel. Sie bricht den Kontakt ab.

Wenn sie davon erzählt, muss sie kurz innehalten, kann die Tränen nur schwer zurückhalten. Es geht ihr nahe, dass ihre eigene Mutter sie verleugnet. Aber Viktoria hat sich entschieden, sie will endlich die sein, die sie wirklich ist: "Ich habe ein Leben lang für andere gelebt und mich aufgeopfert. Jetzt denke ich an mich. Genau das wird mir jetzt zum Vorwurf gemacht. Aber ich ziehe das durch und es geht mir besser damit!" Dass der Druck der Familie nun wegfällt, sieht sie auch als eine Art der Erleichterung.

Außerdem auf ze.tt: Diese Transgender-Kinder zeigen, wer sie wirklich sind

Transidentität in der Bibel?

Viktoria hadert nicht mehr mit ihrem Schicksal. Die Kraft findet sie in der Community und vor allem in ihrem Glauben. Damit hat sie sich lange auseinandergesetzt: "Auf der einen Seite will ich ein christliches Leben führen, auf der anderen Seite nicht ausgegrenzt werden." Vor einigen Jahren hatte sie an einer evangelikalen Schule Theologie studiert, wollte sich anpassen und ihre Transidentität vergessen. Aber sie beginnt, den Bibeltext zu hinterfragen: "Ich nehme die Bibel ernst, aber ich verstehe sie bildlich und nicht so gesetzlich", sagt sie heute. Der Versuch, die eigene Identität zu verdrängen, hat sie näher zu sich selbst gebracht. "Es hat mir bestätigt, dass man seine Identität nicht verleugnen kann."

Mit ihrer Geschichte will sie Menschen wachrütteln und aufklären. Viktoria wünscht sich, dass Leute öfter einfach offen nachfragen würden. Dafür engagiert sie sich in der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) und veranstaltet Workshops an Schulen. Um das Bewusstsein nachhaltig zu verändern, will sie bei den Jüngsten ansetzen: "Wenn ich meine Coming-out-Geschichte erzähle, brechen die Kinder auch manchmal in Tränen aus". Sie begleitet Jugendliche bei ihren eigenen Coming-outs und erlebt, wie wichtig der Rückhalt in einem unterstützenden Umfeld ist. Dass sie in ihrem eigenen christlichen Umfeld wohl niemals Erfolg mit ihren Aufklärungsversuchen haben wird, macht sie traurig: "Man fühlt sich ohnmächtig." Und trotzdem: "Vielleicht ist die Arbeit, die ich mit anderen Kindern mache, eine Art Ausgleich dazu."

Offenheit statt Vorurteile

Dass sich auch rechtlich einiges in unserer Gesellschaft verändern muss, steht für Viktoria fest. Für sie wäre es besonders wichtig, Zwangsoutings im Alltag zu vermeiden. Hilfreich dabei ist der sogenannte Ergänzungsausweis der dgti. Transidente Menschen können vor ihrer offiziellen Namensänderung einen zweiten Ausweis beantragen und damit Dokumente wie Bank- und Versichertenkarten auf ihren neuen Namen umschreiben lassen. Die beiden unabhängigen Gutachten von Psycholog*innen, die es für eine offizielle Namensänderung braucht, seien für viele einfach zu teuer. Bis zu 1.500 Euro müsse man dafür ausgeben. Auch dass Transidentität oft mit kriminellen oder pädophilen Handlungen in Verbindung gebracht wird, will sie nicht akzeptieren: "Es ist keine Krankheit, keine Sexualität, kein Fetisch und kein Verbrechen, sondern wie ich bin!"

Viktoria hätte sich gerne schrittweise, selbstbestimmt und zu einem späteren Zeitpunkt geoutet. In dem Gerichtsverfahren mit ihrer früheren Beziehung hat der Richter nun einen sogenannten Vergleich vorgeschlagen. Darin soll festgelegt werden, dass sich beide Seiten nicht mehr über die sexuellen Neigungen des jeweils anderen äußern dürfen. Für Viktoria ein weiterer Schlag ins Gesicht. Wieder wird ihr Trans-Sein zu einer Sexualität gemacht. Auch deshalb kämpft sie weiter für die Rechte ihrer Community. Ihr Ziel ist es, irgendwann einmal ein Vorbild für andere in ihrer Situation zu sein. Heute ist sie im Reinen mit sich selbst und stolz auf das, was sie erreicht hat. Ihr Whatsapp-Status lautet für alle sichtbar: "One day people that didn’t believe in you will tell everyone how they met you". Viktoria scheint auf dem besten Weg dorthin.

* Viktoria, der Name wurde von der Redaktion geändert.

**Ihr ist es wichtig, dass Transidentität nicht mit der sexuellen Orientierung verwechselt wird. Das Geschlecht ihres*ihrer Partner*in ist daher in diesem Artikel irrelevant.