Endlich Feierabend! Du fährst nach getaner Arbeit den Rechner runter, schnappst dir deine Tasche, willst dich verabschieden und dann haut dir Kolleg*in X biestig den Kommentar "Halbtagsjob oder was?" um die Ohren. Zack! Schon kommt das schlechte Gewissen mit nach Hause.

Es gibt Kolleg*innen und Vorgesetzte, die pünktlichen Feierabend im Job bestenfalls für Beamten-Mentalität, schlimmstenfalls für nicht vorhandenen Ehrgeiz halten. Die selbst standardmäßig immer länger bleiben und anderen bewusst oder unbewusst das Gefühl vermitteln, nie genug zu tun.

"In vielen Firmen gilt man laut der ungeschriebenen Gesetze der Firma als 'Held der Arbeit', wenn man besonders lange bleibt – je länger, desto heroischer und bedeutsamer. Man demonstriert per Anwesenheit, dass man quasi unentbehrlich ist", sagt Karriereberaterin Madeleine Leitner. Wer viele Überstunden macht, wirkt motiviert, wichtig, erfolgreich. Über zwei Milliarden Überstunden haben Arbeitnehmende 2017 in Deutschland geleistet.

Dabei ist paradoxerweise eigentlich genau das Gegenteil der Fall: Menschen, die normalerweise rechtzeitig gehen, haben ihren Job meist besonders gut im Griff und können ihren Arbeitstag ordentlich strukturieren.

Lieber Überstunden als gar kein Lob?

Was das im Umkehrschluss bedeutet, liegt auf der Hand: Die vermeintlichen Held*innen der Arbeit sind nicht immer extrem engagiert und motiviert. Manchmal sind sie schlicht unkonzentriert oder unorganisiert, können nicht delegieren oder nicht nein sagen, fühlen sich überfordert oder versuchen über den Umweg der Überstunden Wertschätzung zu bekommen, die ihnen im Job auf anderen Wegen nicht zuteil wird. Lieber ein Schulterklopfen für unendliche Überstunden als gar keine Beachtung.

Und nur, weil jemand viel arbeitet, wird die Qualität der Arbeit dadurch nicht besser. Im Gegenteil: "Ich habe von Unternehmensberatern gehört, die bis spät nachts arbeiten und wieder ganz früh auf der Matte stehen mussten. Was dabei rauskommt, kann man sich ja denken. Geistesblitze werden es kaum sein", berichtet Madeleine Leitner.

Stattdessen kann es zu einer regelrechten Abwärtsspirale kommen. "Psychologisch gesehen werden Menschen mit steigender Überlastung immer ineffektiver. Wenn sie, um die Erschöpfung zu kompensieren, dann noch mehr und noch länger arbeiten, brauchen sie noch länger, um ihre Aufgaben zu erledigen, statt eine Pause einzulegen und sich zu erholen. Dann ginge alles wieder besser und effizienter", so Leitner.

Außerdem machen dauerhafte Überstunden nicht nur unkonzentriert, sondern unter gewissen Umständen auch krank. Wer zehn Stunden pro Tag arbeitet, steigert, laut einer aktuellen Studie, das Schlaganfall-Risiko um ein Drittel.

Mehr Schein als Sein

Niemand hat etwas dagegen einzuwenden mal so richtig reinzuklotzen und länger zu bleiben, wenn die Hütte brennt. Problematisch wird es dann, wenn Überstunden zum guten Ton gehören und pünktlicher Feierabend argwöhnisch beäugt wird – und das ist oft eine Frage der Unternehmenskultur.

"Wenn man rechtzeitig geht, damit die ungeschriebenen Regeln bricht und auch noch seine Arbeit ordentlich macht, stellt man ja damit die anderen bloß", erklärt Madeleine Leitner. Der Nimbus des "O Gott, ich bin so irre busy" sei in solchen Firmen oft wichtiger als die tatsächlich geleistete Arbeit.

Im Idealfall stellst du direkt schon im Bewerbungsgespräch fest, ob die Unternehmenskultur zu dir passt und entscheidest dich für oder gegen ein entsprechendes Umfeld. Letztlich ist Arbeit nicht viel anderes als Zeit gegen Geld und das ist auch okay so. Dein*e Arbeitgeber*in ist dafür verantwortlich, dass die Aufgaben auch wirklich in der vereinbarten Zeit zu erledigen sind; du bist im Gegenzug dafür verantwortlich, sie in der vereinbarten Zeit zu erledigen. Ausnahmen können, wie gesagt, immer mal vorkommen. Vorübergehend.

Wenn du in einem Umfeld arbeitest, in dem Überstunden ein Statussymbol sind und dir das nächste Mal ein*e Kolleg*in einen Spruch wie "Halbtagsjob oder was?" hinterherruft, einfach lässig antworten: "Vielleicht bin ich einfach effizienter als du." Das ist zwar nicht ganz ohne Risiko, aber irgendwo muss man ja ansetzen, wenn sich etwas ändern soll. Oder wie Madeleine Leitner sagt: "Kann sein, dass die Kollegen dann ganz und gar nicht begeistert sind. Vielleicht werden andere aber auch ermutigt, es genauso zu machen."