Aus für Exit? Ein schöneres Geschenk könne es für völkische Familien nicht geben, da ist sich Heidi Benneckenstein sicher. Die Erzieherin gehörte verschiedensten Neonazi-Organisationen an. Sie schaffte den Weg raus aus der Szene – und ist heute eine der prominentesten Aussteiger*innen im Land. Dass sie die Ideologie, den Hass und die Menschen, mit den sie sich lange umgab, hinter sich ließ, liegt auch an Exit. Einer Initiative, die seit ihrer Gründung im Jahr 2000 über 700 Szene-Aussteigende betreut hat.

Fabian Wichmann, 39, ist seit 2006 Teil des Teams. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Kalender im A3-Format für das neue Jahr, den er selbst gestaltet hat: zwölf Monate, zwölf Ausstiegswillige, die von ihren Erfahrungen in der Szene und der Hilfe durch Exit berichten. Wenige mit klarem Foto und Namen wie Heidi Benneckenstein, die meisten anonymisiert. Denn wer aussteigen will, bringt nicht nur sich selbst womöglich in Gefahr, sondern auch jene, die dabei helfen.

Die Gefahr für die Mitarbeitenden sei überschaubar – und nicht so groß wie für die, die aussteigen wollen.

Und so gibt es an dem schlichten Altbau in Berlin auch kein Klingelschild, das das Wort Exit trägt, ebenso fehlt eine genaue Adressangabe des Büros auf der Webseite. Dass die Rollläden kein bisschen Tageslicht in die Räume im Erdgeschoss durchlassen, sei aber Zufall, versichert Wichmann und lacht. "Hab' nur vergessen, die hochzuziehen."

Trotzdem, sagt er, könne er schon manchmal paranoid werden. Nicht zu Unrecht: Vor allem Exit-Begründer Bernd Wagner erhielt schon oft Drohungen per Post, Mail, Telefon. "Da wurde auch mal am Auto herumgespielt", sagt Wichmann, der in Potsdam Erziehungswissenschaft studiert hat. Dennoch sei die Gefahr für die Mitarbeitenden überschaubar – und nicht so groß wie für die, die aussteigen wollen.

Aufbruch in ein neues Leben

Wichmann wuchs in einem kleinen brandenburgischen Dorf nahe Berlin auf und kam dort früh mit Neonazis in Berührung. Inzwischen zieht es Wohlhabende in das Örtchen, die vom Eigenheim träumen und dennoch die Nähe zur Großstadt suchen. Damals war das anders. "Wer nicht ins Bild passte, war in dem Dorf schnell als 'linker Vogel' verschrien", erinnert sich Wichmann an seine Jugend. "Die Konfrontation mit Rechts war alltäglich – und die Neonazis immer da."

Bei besonders krassen Fällen müsse sogar die Identität der Betroffenen gewechselt werden.

Obwohl Wichmann nun in Berlin lebt: Der Konflikt mit Rechts ist geblieben. Doch heute ist der sein Job. Quer aus dem Bundesgebiet melden sich Neonazis bei Exit, die rausdrängen aus der Szene, mit ihrer Vergangenheit brechen und sich ein neues Leben aufbauen wollen. In der Regel rufen die Hilfesuchenden an, einige schreiben auch Mails. Aber das war es oft schon an Gemeinsamkeiten. Jeder Fall ist individuell: Manche melden sich direkt aus einer Kamerad*innenschaft heraus, anderen haben schon mit der Szene gebrochen und werden von ihrer Vergangenheit eingeholt. "Wir schauen uns dann die Sachlage an, arbeiten Szenarien durch und kümmern uns erst mal um die dringlichsten Probleme."

Exakt 761 Menschen, die den Ausstieg geschafft haben, kann Exit vorweisen. Im Schnitt begleiten die Mitarbeitenden der Initiative die Betroffenen zwei bis vier Jahre. "Wir haben aber auch Fälle, die deutlich darüber hinausgehen", sagt Wichmann. Wichtig sei vor allem das Thema Sicherheit und ob eine Gefährdung vorliegt. Bei besonders krassen Fällen müsse sogar die Identität der Betroffenen gewechselt werden. "Das geht dann runter bis zur Steuer- und Versicherungsnummer. Solche Prozesse sind extrem schwierig und langwierig."

Weniger nervöse Reaktionen

Doch wieso rutschen immer wieder Menschen in die Szene ab? "Es wäre zu einfach, zu sagen, da hat jemand nur eine schwere Kindheit gehabt", stellt Wichmann klar. Meist sei ein geschichtliches Interesse vorhanden, eine gewisse Faszination für Militär und Waffen – und zusätzlich eine Identifikationsfigur zum Beispiel in der Familie, die dieses Geschichtsbild trägt. Schwierige Familienverhältnisse, fehlende Angebote für Jugendliche, all das trage aber dazu bei, dass Leute abdriften.

Über all die Jahre hat sich einiges geändert, auch wenn es die "eine" Neonazi-Szene nicht gibt, wie Wichmann sagt. Die klassischen Skinheads vom Anfang der 2000er-Jahre seien seltener geworden, dafür ist zum Beispiel der Anteil an Frauen gestiegen – wenn auch auf niedrigem Niveau.

Sensibilität dem Thema gegenüber ist wichtig, aber sie darf nicht in einer Schockstarre und apokalyptischen Szenarien enden.
Fabian Wichmann, Exit

Wichmann beklagt jedoch eine erhöhte Nervosität in der Gesellschaft und in den Debatten, was auch am Aufstieg der AfD liege. "Zum Beispiel gab es eine enorme Aufregung um den Dritten Weg in Plauen", erinnert Wichmann daran, wie die extrem rechte Kleinstpartei am 1. Mai 2019 mit einigen Hundert Teilnehmenden durch die sächsische Stadt marschierte.

"Ich muss das ja nicht überhöhen und gleich ein 1933 daraus machen. Es wäre schön, wenn wir als Gesellschaft souveräner mit solchen Themen umgehen und nicht über jedes Stöckchen springen, was uns hingehalten wird." Genau diese Wahrnehmung würden die Rechtsextremen mit ihren Provokationen bezwecken. Dabei gehe es nicht um die Frage, ob berichtet wird – sondern wie: welcher Umfang, welche Bildauswahl, welcher Tonfall. "Sensibilität dem Thema gegenüber ist wichtig, aber sie darf nicht in einer Schockstarre und apokalyptischen Szenarien enden."

Als die Arbeit am Ende stand

Dennoch zeigen solche Ereignisse, wie wichtig die Arbeit von Exit ist. Trotzdem sind die 20 Jahre der Initiative auch geprägt von stetiger Unsicherheit über die eigene Zukunft. Ob sie dieses Jahr überhaupt ihr Jubiläum feiern kann, war lange ungewiss. Die Arbeit wird neben Spenden durch staatliche Unterstützung finanziert. Doch bis zum vergangenen Herbst hatte der Träger, das Zentrum Demokratische Kultur (ZDK), keine Zusage für weitere Fördermittel.

Das Bundesfamilienministerium strukturierte sein Programm Demokratie leben um – und Exit passte plötzlich nicht mehr hinein. "Das alles stand auf der Kippe", sagt Wichmann. Und das nicht zum ersten Mal, denn die Fördermittel werden immer nur für einen begrenzten Zeitraum bewilligt. Dabei dürfte Exit die bekannteste Adresse Deutschlands für Ausstiegswillige sein. Nicht nur für Neonazis, sondern auch für Menschen aus der salafistischen Szene, die durch die Initiative Hayat betreut werden, deren Träger ebenso das ZDK ist.

Erst als die Berliner Tageszeitung taz über das drohende Aus berichtete, kam Bewegung in das Thema. Auch namhafte Abgeordnete wie die Vizepräsidentin des Bundestags, Claudia Roth, reagierten mit Unverständnis. "Es kann sein, dass der mediale Druck etwas bewirkt hat", sagt Wichmann. Für die neue Förderperiode von drei Jahren ist die Grundfinanzierung gesichert. Doch dann wird wohl wieder das Zittern losgehen – bei den Mitarbeitenden, aber genauso bei jenen, die hier langfristig Hilfe erhalten. Für sie wäre es "fatal und gefährlich", wenn die Begleitung durch Exit wegbrechen würde. So steht es wörtlich im Einleitungstext von Wichmanns Kalender. Er hat ihn auch an das Ministerium geschickt.

Dieser Text von Tobias Hoeflich mit Fotos von Benjamin Jenak erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins und online.

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