Vor dem massiven Holzbett aus Kolonialzeit steht ein weißer Nachttopf mit hellblauem Rand auf einem Nierentisch mit Floral-Dekor. Auf dem Boden liegen alte Bücher. Ein zerschlagener Spiegel auf einer Kommode steht für die Schönheit, die den verlassenen Raum einst füllte und die nun auf andere Weise zurückkehrt ist. "Schneewittchen", so nennt Martin Boll die Szenerie, die er in einer verlassenen Mühle in Luxemburg fotografierte.

Boll, 43, ist Urban Photograph. Urban-Fotograf*innen knipsen alles, was mit städtischem Raum zu tun hat oder hatte. Dazu gehören Streetart, Graffiti, Poster, Plakate, Straßenkünstler und leerstehende Gebäude.

Boll zeigt in seiner Fotoausstellung "Vergessene Orte" ab 1. Juni Bilder ehemaliger Villen, Krankenhäuser, Theater – Häuser, in denen einst viel Leben tobte, die nun verlassen sind. Sie zu finden, kostete ihn viel Zeit: "Manchmal erfahre ich durch Freunde von Orten, die ich besuchen könnte. Meistens aber muss ich lange recherchieren. Ich google dann in Fotografie-Foren, schaue auf Luftaufnahmen und studiere alte Karten, auf denen zum Beispiel ehemalige Fabriken verzeichnet sind."

Boll hat sich auf verlassene Orte fokussiert, weil ihn die besondere Atmosphäre der Motive reizt: "Die Natur holt sich ihren Lebensraum wieder zurück und in Kombination mit einer gewissen Ästhetik des Verfalls ist das sehr beeindruckend", sagt er.

"Die Natur holt sich ihren Lebensraum wieder zurück und in Kombination mit einer gewissen Ästhetik des Verfalls ist das sehr beeindruckend"

Wo sich die Orte seiner Aufnahmen genau befinden, verrät der Fotograf nicht. Zu groß ist seine Angst vor Instagram-Touristen – Leuten, die die alten Gebäude aufsuchen und Fotos machen, um ein bisschen Urbanart-Feeling für sich und ihre Social-Media-Kanäle einzuheimsen.

"Zusätzlich zum 'Tourismus' gibt es Menschen, die einfach randalieren wollen und dann dort hingehen, um ihre Wut rauszulassen", sagt Boll. Auch Kupferdiebe, die auf der Jagd nach wertvollem Metall seien und Jugendliche, die "Bock auf eine wilde Party haben", hätte er schon erlebt. Danach verlören diese Orte an Schönheit und Faszination.

Orte, wie der Berliner "Spreepark" oder die "Eisfabrik" reizen Boll nicht. Sie sind zu bekannt, zu oft besucht. "Urban-Fotografen suchen Orte, die original erhalten sind", sagt er. Es gäbe auch Fotograf*innen, die die Objekte drapierten: Stühle zurechtrückten, an Tapeten zupften, herumwirbelten. Bei den Meisten sei dieses neue Arrangieren aber verpönt. Das Motto wahrer Urban-Fotograf*innen sei: "Nimm nichts mit außer deiner Bilder, lass nichts zurück außer deiner Fußspuren."

"Nimm nichts mit außer deiner Bilder, lass nichts zurück außer deiner Fußspuren"

"Urban" steht für "weltstädtisch", "verstädtlicht" Hinter dem Fotografie-Trend dazu steckt mehr: der Gedanke, dass sich die Natur das zurückholt, was ihr eh einst gehörte. Boll will möglichst nachhaltig fotografieren. Was heißt das? "Einerseits versuche ich mich an einer Art Dokumentation, um diese Orte für die Nachwelt festzuhalten. Andererseits hat meine Fotografie auch einen ökologischen Aspekt, insofern, dass sich Pflanzen und Tiere in den Brachflächen alter Industriegelände wieder ausbreiten."

An Orten Bilder zu machen, die kaum jemand kennt, an denen kaum jemand ist und wo schon lange keiner mehr war, ist nicht ganz ungefährlich.

Boll fotografiert meistens in Begleitung eines Freundes oder einer Freundin. Oft stand er schon in Räumen mit morschem Holzboden und Decken, die drohten, über ihm zusammenzufallen. Er knipste im Winter in einer alten Pension im Harz, in der der Boden gefroren war und laut knarzte, als er durch die Räume schritt. "Das ist schon unheimlich", sagt er. "Da bin ich etwas schneller wieder rausgelaufen, als ich zunächst vorhatte."

Trotzdem liebt er das Fotografieren in alten Mauern, vor allem wegen der besonderen Atmosphäre: "Es gibt Orte, mit fast mystischer Stimmung. Ich fühle mich dort ein bisschen beobachtet. Das sind Orte, die nicht unbedingt schön sind, sondern sogar abschreckend, aber dadurch besonders."