Liebe, Sex und Zärtlichkeit sind allgegenwärtig – in der Werbung, im Fernsehen, in der Musik, in der Kunst, in Büchern. Heranwachsende Generationen gehen meist freizügig mit Sex und ihrer eigenen Intimität um. Wer seinen Körper in sozialen Netzwerken präsentiert, ist längst keine Ausnahme mehr. Das detailreiche Darstellen von Sexualität in Filmen oder Serien scheint selbstverständlich geworden zu sein, genauso der fast uneingeschränkte Zugriff auf pornografische Seiten.

Ist ein Erwachsenwerden und Erwachsensein denkbar, das Sex nicht in den Fokus zwischenmenschlicher Beziehungen rückt? Und was ist mit jenen, die sich nicht verlieben oder kein (großes) Interesse an Intimität und Sex haben, trotzdem aber auf der Suche nach Bindung zu einer oder mehreren Personen sind? Wie finden sie in unserer Gesellschaft ihren Platz?

Ein Begriff, der versucht, passende Antworten auf diese Fragen zu finden, ist Asexualität. Er beschreibt Menschen mit einem geringen oder nicht existenten Sexualtrieb. Asexualität ist ein Thema, das öffentlich kaum thematisiert wird – und wenn doch, meistens oberflächlich oder klischeebehaftet.

Liese Braun leitet in Dresden seit sechs Jahren einen Stammtisch für Asexualität und Aromantik. Der Name der Gruppe, die sich einmal im Monat trifft, ist einprägsam: A*Team. Mit der US-amerikanischen Actionserie aus den 1980er-Jahren hat sie wenig zu tun, allenfalls die Idee, dass sie Menschen in Not zur Seite steht. Den Stammtisch aber nur darauf zu reduzieren, würde nicht unbedingt den Kern der Idee treffen, sagt Liese Braun. Das Sternchen im Namen solle die Diversität der Gruppe unterstreichen. Die 30-Jährige spricht immer wieder von einem Spektrum, um deutlich zu machen, wie unterschiedlich Asexualität gelebt werden kann. Was der Sozialgeografin außerdem wichtig ist zu erwähnen: "Wir sind keine Selbsthilfegruppe."

In einer heteronormativen Gesellschaft wird uns permanent mitgeteilt, dass Sex in allen seinen Facetten zu einem unbeschwerten Leben dazugehören muss.
Liese Braun

Über die Bildungsarbeit mit jungen Menschen kam Liese Braun zum A*Team. Für den Dresdner Verein Gerede, eine Anlaufstelle für Menschen mit vielfältigen Liebes- und Lebensweisen, war sie in Schulklassen unterwegs, um dort über die Vielfalt sexueller Identität zu sprechen und auch über das Definieren eigener Grenzen. Auf die Gruppe ist sie durch Zufall aufmerksam geworden, genauso wie fast alle, die heute zum Stammtisch kommen. Die Altersspanne reicht von 18 bis 46 Jahre. Durchschnittlich sind es ein Dutzend Menschen, manchmal mehr, manchmal weniger, so Braun. Coronabedingt musste die Gruppe in den letzten fünf Monaten pausieren. Seit August finden die Treffen wieder statt, nun aber zwei nacheinander, um die Zahl der Teilnehmenden einzugrenzen.

Asexualität wird öffentlich kaum thematisiert

Die Gruppe tauscht sich über eigene Erfahrungen aus. Häufig gehe es um Alltägliches, um Prüfungsstress oder darum, wer jemand Neues kennengelernt hat. Die Runden können genauso einen konkreten Aufhänger haben – meistens dann, wenn neue Menschen dazu stoßen. Dann gehe es zum Beispiel um das Kennenlernen des Spektrums, Fragen von Nähe und Intimität oder Beziehungserfahrungen.

Auch Workshops bietet Braun an, wenn die Gruppe danach fragt, etwa zu sexualisierter Werbung und asexuellen Beziehungsformen. "In einer heteronormativen Gesellschaft wird uns permanent mitgeteilt, dass Sex in allen seinen Facetten zu einem unbeschwerten Leben dazugehören muss. Wir stellen das zur Diskussion."

Bei den Menschen, die zum Stammtisch kommen, sei Sexualität nicht unbedingt der Fokus ihres Alltags, sagt Liese Braun. "Das heißt nicht, dass sie keine Intimität zulassen können oder kein sexuelles Interesse gegenüber sich selbst oder anderen verspüren. Sie definieren sich selbst und eine Beziehung eben nicht über Sex." Sie kenne auch viele Menschen, die mit Bettgeschichten prahlen und sich über Zahlen vergleichen: wie oft, wie lange, mit wie vielen. In den allmonatlichen Treffen des Stammtisches wolle sie es schaffen, dass eigene Intimitätsgrenzen wahrgenommen werden. Denn viele wenden sich an die Gruppe, ohne überhaupt zu wissen, was das Spektrum genau ist. Braun wünscht sich daher mehr Sichtbarkeit, eine größere Ernsthaftigkeit und mehr Akzeptanz.

Die allermeisten Menschen, die sich an den Stammtisch wenden, leiden nicht darunter, nicht sexuell zu sein. Es schmerzt sie sehr vielmehr, dass sie niemand wirklich ernst nimmt.
Liese Braun

"Ich liebe meinen Partner, aber ich mag die Intimität nicht." Das ist ein Satz, den Braun in den vergangenen Jahren nicht nur einmal gehört hat. Viele Menschen sind verunsichert angesichts verständnisloser Reaktionen von anderen – und haben das Gefühl, irgendetwas würde mit ihnen nicht stimmen. Geraten wird von Außenstehenden, die eigene Libido überprüfen zu lassen. "Das führt nicht selten dazu, dass Menschen psychisch labil werden, weil ihnen der Eindruck vermittelt wird, dass sie nicht normal oder krank sind. Der Leidensdruck ist bei einigen groß", sagt Liese Braun. "Viele haben Angst vor den Reaktionen und davor, verlassen zu werden oder überhaupt darüber zu sprechen, dass sie mit anderen nicht intim werden wollen."

Asexuelle Menschen sind selbst in der queeren Community unterrepräsentiert

In solchen Fällen könne der Stammtisch ein Anker sein, meint Braun, weil die Menschen sehen, "dass es andere gibt, denen es genauso geht und sie nicht ausgeschlossen werden". Denn auch die Psychologie könne kaum etwas mit dem Thema Asexualität anfangen. "Die allermeisten Menschen, die sich an den Stammtisch wenden, leiden nämlich nicht darunter, nicht sexuell zu sein. Es schmerzt sie sehr vielmehr, dass sie niemand wirklich ernst nimmt und sie sich nicht von ihrem Umfeld verstanden fühlen." Helfen können Begriffe wie grey-, demi- oder auch fraysexuell. Beschrieben wird zum Beispiel das Verlangen nach sexueller Interaktion, das durch eine romantische Beziehung größer oder kleiner werden kann. Doch nicht alle brauchen einen erklärenden Begriff.

Noch ein wenig komplexer sei es, weiß Braun, den Unterschied zwischen romantischer und sexueller Anziehung zu begreifen. "Es kann also schon einen Unterschied machen, in wen ich mich verliebe, für wen ich Gefühle habe, wem ich nah sein und mit wem ich schlafen möchte. Für viele ist es dasselbe – sie verlieben sich und spüren eine sexuelle Anziehung. Ich kann mich aber auch in Frauen verlieben, aber nur mit Männern schlafen wollen, heißt: bisexuell, aber heteroromatisch."

Unterrepräsentiert sind asexuelle Menschen aber selbst in der queeren Community. In dem Kürzel LGBTIQ* kommt Asexualität zum Beispiel gar nicht vor, kritisiert Liese Braun, die Ergänzung werde zumindest selten verwendet. "Dabei ist doch die sexuelle Selbstbestimmung eine große Errungenschaft."

Belastend für asexuelle Menschen sind im Moment auch die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. Zu Hause bleiben zu müssen, befreundete Menschen oder die Familie nur noch online sehen zu können, das ist für viele zu einem psychischen Problem geworden. Wolfram Herrmann vom Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule Münster hat gemeinsam mit der Charité Berlin untersucht, welche Menschen besonders gefährdet sind, an Einsamkeit zu leiden. Der Fokus lag dabei vor allem auf der queeren Community. Erhoben wurden die Daten zwischen Ende März und Anfang April, also während des Lockdowns in Deutschland. Kontaktiert hatten Herrmann und sein Team die Befragten über Beratungsstellen, Hochschulen oder in sozialen Netzwerken.

In der Corona-Pandemie fühlen sich asexuelle und trans Menschen häufiger einsam

Die Ergebnisse der Untersuchung waren recht eindeutig. "Während nur ungefähr 15 Prozent der heterosexuellen Befragten angaben, sich einsam zu fühlen, waren es bei asexuellen und

trans Menschen ungefähr 50 Prozent", erklärt Wolfram Herrmann. Überraschend war für ihn aber vor allem, dass asexuelle Menschen angaben, auch dann einsam zu sein, wenn sie in einer Beziehung leben (mehr als 40 Prozent). Bei Asexuellen ohne Partnerschaft waren es über 50 Prozent. Ob die Zahlen aber nur auf die Corona-Einschränkungen zurückgeführt werden können oder das Gefühl von Einsamkeit grundsätzlich höher ist, kann Herrmann nicht sagen. Dafür brauche es weitere Studien.

Dass während des Lockdowns mehr über die wirtschaftlichen Folgen gesprochen wurde, statt die psychischen Probleme in den Fokus zu rücken, will Herrmann nicht bestätigen. Aufgefallen ist ihm, dass es mehr um Schwierigkeiten von Familien bei der Betreuung von Kindern in Schule und Kita gegangen sei, weniger um Probleme von Menschen ohne Kinder, Familie oder Partnerschaft.

Dass die Anfragen in Zeiten der Pandemie mehr geworden sind, kann Liese Braun vom A*Team bestätigen. Momentan würden sich monatlich mehrere Menschen bei ihr melden, in der Regel per E-Mail. Doch nicht alle wollen am Stammtisch teilnehmen: "Scham und Unsicherheit sind so groß, dass einige nicht in eine Gruppe wollen, trotzdem aber Unterstützung und Informationen suchen."

Braun führt auch Einzelgespräche – alles ehrenamtlich. Und damit niemand missversteht, was sie tut, hat sie gelernt, ihre Arbeit auf einen Satz herunterzubrechen: "Sex kannst du haben, musst du aber nicht." In Beziehungen führe das aber nicht selten zu Problemen. "Wenn ich mit einer Person schlafe, signalisiere ich ihr, dass ich sie toll und attraktiv finde. Bei Menschen aus dem Spektrum ist das nicht unbedingt so." Diskutiert wird darüber auch im Aven Forum, einer der bekanntesten Onlineplattformen zum Thema Asexualität. Dort werde viel über Kompromisse gesprochen: "Ich möchte keinen Sex mit dir, befriedige dich dafür oral oder mit der Hand."

Es gebe auch Stimmen in dem Forum, die anderen Ratsuchenden nahelegen, sich einmal im Monat zum Sex zu zwingen. Das hält Braun für extrem schwierig, vor allem mit Blick auf die eigene Psyche. "Dieses ständige Über-die-eigenen-Grenzen-Gehen ist bei so einem intimen Thema nicht gerade empfehlenswert." Beziehungen sind deshalb tatsächlich eine Ausnahme bei Menschen, die sich auf dem Spektrum der Asexualität verorten. Das heißt jedoch nicht, dass sie sich weniger nach Nähe oder Bindung sehnen würden, nur eben nicht zwangsläufig in einer heteronormativen Mann-Frau-Beziehung, so Braun.

Sie hofft, aus dem Stammtisch eine dauerhafte Beratungsstelle machen zu können – am besten online. Außerdem würde sie gerne mehr Workshops anbieten, bei Festivals, an Schulen oder Universitäten. Dabei möchte sie anderen vor allem Menschen den Druck nehmen, Dinge nur deshalb zu tun, um dazuzugehören.

Dieser Text von Tom Waurig erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins.

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