Housam ist erschöpft. Den ganzen Tag ist er mit einem Freund kreuz und quer durch Thessaloniki gelaufen, um den Beamer reparieren zu lassen, den sie vor einigen Wochen von Spendengeldern gekauft haben. Überall standen sie vor verschlossenen Türen. Als die Freunde schließlich mit dem kaputten Beamer wieder im Bus sitzen, dämmert es bereits. Ein verschenkter Tag. Housam starrt aus dem Fenster, vor dem halbverfallene Industriegebiete vorbeiziehen. Kein Beamer bedeutet: kein Kino für die Kinder im Camp, zumindest auf absehbare Zeit.

Im Flüchtlingslager Lagkadikia, auf einem alten Militärgelände westlich von Thessaloniki, leben die beiden jungen Syrer seit April zusammen mit etwa 500 Landsleuten. Housam fühlt sich verantwortlich für die Menschen im Camp, nicht nur für die Kinder. Denn er und einige Freunde haben eine interne Hilfsorganisation gegründet: das Jafra Team Greece. Ihr Motto: "Refugees 2 Refugees" – von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Während der alte Bus durch die Landschaft klappert, erzählt der 25-Jährige, wie es dazu kam.

Housams Vorbild ist seine Mutter

Wie Zehntausende andere standen er und ein paar Freund*innen im März 2016 in Idomeni, am Grenzübergang von Griechenland nach Mazedonien, plötzlich vor verschlossenen Toren. Während der folgenden Wochen harrten sie dort trotz Regen und Kälte aus und verbrachten viel Zeit mit einer Gruppe syrischer Kinder.

Die meisten hatten ernste psychische Probleme: "Wenn eine Zehnjährige mit Schmugglern von Syrien bis nach Griechenland gekommen ist, dann verhält sie sich nicht mehr wie ein Kind." Housam und viele seiner Freund*innen kennen die psychischen Auswirkungen von Flucht. Nicht nur aus eigener Erfahrung. Sie hatten bereits seit Jahren mit Geflüchteten gearbeitet, bevor sie selbst welche wurden.

Housam wächst in Yarmouk auf, einem Stadtteil von Damaskus, der aus einem großen Camp für palästinensische Flüchtlinge entstanden ist. Wie seine beiden Schwestern fängt er schon als Jugendlicher an, dort für eine NGO als Freiwilliger zu arbeiten. Vorbild ist seine Mutter, eine umtriebige Frau, die mit Mitte 50 noch mal ein Studium aufnimmt und einen Chor für palästinensische Frauen leitet.

2012 nehmen Islamisten das Viertel ein, die Armee antwortet mit Bomben. Fast alle Bewohner fliehen. Von Yarmouk bleibt nicht viel übrig. Auch Housam verlässt Syrien, geht wie viele zunächst in den Libanon. In Beirut arbeitet er wieder für eine NGO, macht Film- und Theaterprojekte mit syrischen Kindern. Doch im Libanon gibt es keine Zukunft für junge Syrer*innen. So macht er sich Anfang 2015 auf den Weg nach Europa.

Als die Menschen in Idomeni 2016 schließlich die Hoffnung auf offene Grenzen aufgeben, folgen Housam und seine Freund*innen den Kindern und ihren Familien ins Camp von Lagkadikia. "Am ersten Abend haben wir eine große Willkommensparty organisiert", erzählt Housam. So sollten sich die Familien etwas weniger verloren fühlen.

Die Camp-interne Hilfsorganisation sorgt für eine friedliche Atmosphäre

Als die beiden jungen Männer im Dörfchen Lagkadikia aus dem Bus steigen, ist es stockdunkel. Ein unbeleuchteter Feldweg führt ins Camp, aus dem arabische Popmusik in die nächtliche Landschaft schallt. Housam ringt sich ein Grinsen ab. Die abendlichen Partys haben sich offenbar etabliert.

Im Camp werden die beiden sofort von einer Traube lachender Kinder umringt. Mit ihnen im Schlepptau zeigt Housam stolz den mit Lichterketten dekorierten Gemeinschaftsraum, in dem ein paar Männer Schach spielen, und die kleine Baracke, die das Jafra Team renoviert und in eine Schule umgewandelt hat.

Jeden Tag bieten die jungen Freiwilligen Unterricht, Spiele und Aktivitäten für die Kinder an – von Karate bis zu Malstunden. Sie organisieren regelmäßige Aufräumaktionen und achten darauf, dass der große Samowar mit dem Lebenselixier Tee immer nachgefüllt wird. Viele Campbewohner helfen mit. "Am Anfang waren sie noch skeptisch", sagt Housam. "Sie dachten, wir sind eine ganz normale NGO. Erst als sie verstanden, dass wir auch Flüchtlinge sind, haben sie uns vertraut und angefangen mitzuhelfen."

"Erst als sie verstanden, dass wir auch Flüchtlinge sind, haben sie uns vertraut und angefangen mitzuhelfen“

Die Initiative hat dazu beigetragen, dass die Atmosphäre in Lagkadikia bislang friedlich blieb. Anders als in vielen anderen griechischen Camps gibt es keine Selbstmordversuche, keine Aufstände, keine Kämpfe zwischen Syrern, Kurden und Palästinensern, zwischen Städter*innen und Dörfler*innen. "Wenn du den ganzen Tag in deinem Zelt sitzt und nichts tun kannst, dann wirst du verrückt und machst dumme Sachen", ist Housam überzeugt. "Wir dagegen sind zu einer Art Gemeinschaft geworden."

Geflüchtete sollen sich in ihre Opferrolle fügen

Stolz ist er auch darauf, dass das Jafra Team die typisch arabische Geschlechtertrennung überwunden hat: "Wir haben mehr Mädchen als Jungs im Team und machen alles zusammen." Je mehr Housam über die kleine Modellgemeinschaft erzählt, die sie in den letzten Monaten aufgebaut haben, desto mehr blüht er auf. Für einen Moment scheint alle Frustration verflogen.

Mit Genugtuung zeigt er auf das Schild, das sie an den Zaun eines kleinen, abgegrenzten Bereichs im hinteren Teil des Camps gehängt haben: "Eine selbstorganisierte Gruppe von Flüchtlingen ist in diesem Camp aktiv", steht da, und: "Kommt uns besuchen." Das Schild ist Einladung und Kampfansage zugleich.

Denn den griechischen Sicherheitsleuten und der NGO, die offiziell für die Verwaltung des Camps zuständig sind, sind die aufmüpfigen jungen Leute ein Dorn im Auge. "Sie wollen, dass wir alle unsere Pläne vorher von ihnen absegnen lassen", seufzt Housam. "Sie schicken Freiwillige, die genau die gleichen Aktivitäten anbieten wie wir. Leuten, die uns Spenden bringen wollten, haben sie gesagt, sie würden damit die Lagermafia unterstützen." Die Geflüchteten sollten sich gefälligst in ihre Opferrolle fügen und dankbar alle Hilfe annehmen.

Housam ist fotogen – könnte mit seinem Kleidungsstil auch in Berlin oder Kopenhagen leben

Housam hat genug erlebt, um die Spielregeln des Systems zu kennen, dem er und die anderen ausgeliefert sind. In Idomeni stellte er sich stundenlang auf die Bahngleise und hielt selbst geschriebene Schilder in die Höhe: "Ich habe den Krieg überlebt, aber dank euch wünsche ich mir, ich hätte es nicht", stand auf einem.

Der junge, fotogene Mann, dessen Kleidungsstil auch nach Berlin oder Kopenhagen passen würde, wurde zum Liebling der Fotografen und Reporter. In einem Video von Ai Weiweis Besuch in der Zeltstadt ist Housam im Gespräch mit dem chinesischen Künstler zu sehen.

Doch seine Zukunft ist ungewiss. Wie alle anderen hat er sich für das europäische Relocation-Programm registriert. Wohin es ihn verschlagen wird und wann, darauf hat er keinen Einfluss. Dabei hätte Housam, der in Damaskus ein Jurastudium abbrechen musste, 2014 die Möglichkeit gehabt, mit einem Studienstipendium nach Kanada zu gehen. Er lacht bitter, als er das erzählt: "Damals dachte ich noch: Kanada ist kalt und weit weg. Und immer mehr Freunde schafften es nach Europa." Aber lange hält er sich nicht mit solchen "Was wäre, wenn"-Fragen auf, dafür hat er gar keine Zeit.

Die Doppelrolle Flüchtling/Flüchtlingshelfer brennt ihn aus

Und doch wirkt Housam ausgebrannt. Gegessen hat er seit mindestens fünf Stunden nichts, dafür unzählige Zigaretten geraucht. Ihre merkwürdige Doppelrolle als Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer macht allen im Team zu schaffen. "Überleg mal, hier sind so viele Menschen auf engem Raum, und wir arbeiten nicht nur hier, wir leben auch hier. Selbst wenn wir sagen, wir arbeiten von zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends – wo sollen wir danach hingehen?"

In Housams Fall kommt hinzu, dass er der Einzige in Lagkadikia ist, der gut Englisch spricht. Das macht ihn zum Sprachrohr des gesamten Camps. Jeden Tag beantwortet er vom Smartphone aus Mails von Menschen, die helfen wollen, schreibt Texte für die Facebook-Seite des Jafra Teams, übersetzt Formulare und Telefonate mit Behörden.

Überall muss er den selbstbewussten, kosmopolitischen Aktivisten geben

Und er ist der Einzige, der mit der Campverwaltung diskutieren kann. "Dann versuche ich immer, mich gewählt auszudrücken, meinen Akzent zu überspielen." Überall muss er den selbstbewussten, kosmopolitischen Aktivisten geben, auch wenn er erschöpft ist wie heute, wenn er hungrig ist, weil er vor lauter Arbeit das karge Mittagessen verpasst hat, oder wenn er schlechte Nachrichten von seinen über die Welt zerstreuten Freund*innen bekommt.

Warum er und die anderen trotzdem die Energie finden, jeden Tag aufs Neue an die Arbeit zu gehen? Housam überlegt. "Weißt du, wir mussten fliehen und Schmugglern all unser Geld geben. Vor unserer Nase wurden die Grenzen dichtgemacht. Seitdem sitzen wir in Camps und werden gefüttert wie Kinder."

Er zieht an seiner Zigarette und bläst langsam den Rauch aus. "Da wird in dir eine Art innerer Schutzschild aktiviert, und du willst etwas tun, was dir das Gefühl gibt: Ich bin noch hier. Ich kann Dinge bewegen. Ihr seid nicht stärker als ich und ich bin nicht schwach."