Wer in den vergangenen Tagen über die Via Monte Napoleone flaniert ist, wird sie anders wahrgenommen haben als Lonely Planet und Marco Polo sie beschreiben. Normalerweise zieht die Prachtstraße im Zentrum Mailands wie ein Magnet Tourist*innen aus der ganzen Welt an. Heute ist sie nahezu menschenleer. Das Coronavirus hat auch die Modemetropole erreicht.

In den Luxusstores tragen die Verkäufer*innen Atemschutzmasken, in den Showrooms der großen Marken stehen Desinfektionsmittel auf der Toilette. Nachdem Italien den ersten großen Covid-19-Ausbruch in Europa gemeldet hat, fand die Show von Stardesigner Giorgio Armani bei der Mailänder Fashionweek ohne Publikum statt. Stattdessen konnte die Modeschau im Livestream verfolgt werden.

Die Auswirkungen des Coronavirus auf die Modeindustrie wirken paradox, wenn man bedenkt, dass ebenjene Unternehmen ökonomische Verluste verzeichnen, die in der jüngeren Vergangenheit versuchten, aus der Sorge um Viren und schlechter Luftqualität Kapital zu schlagen. Nachdem Atemschutzmasken über Jahre als modisches Accessoire verkauft wurden, findet die Modebranche gezwungenermaßen zu ihrem eigentlichen Bestimmungszweck zurück.

Vom Heuschnupfen zum Fashiontrend

Der Siegeszug der Atemschutzmaske als nützliches Utensil hatte Anfang der 2000er Jahre begonnen. Das japanische Unternehmen Unicharm brachte damals eine neuartige Maske auf den Markt, die Pollen aus der Luft filtern kann. Das führte zu einem großen Aufschwung im Maskenverkauf, da insbesondere die Pollen der japanischen Zeder als sehr aggressiv gelten, und Menschen mit Heuschnupfen alles versuchen, um sie abzuwehren.

"Als ich 1989 zum ersten Mal nach Japan kam, trugen schon damals viele Menschen Atemschutzmasken", sagt Verena Blechinger-Talcott im Gespräch mit ze.tt. Sie ist Professorin der Japanologie an der FU Berlin und lebte selbst sieben Jahre in Japan. In dem Land gilt es als selbstverständlich, im Krankheitsfall eine Maske zu tragen. "In Japan wird es als unappetitlich angesehen, wenn man sich in ein Taschentuch schneuzt", sagt sie. "Meistens ziehen Japaner*innen die Nase hoch – viele verstecken die Triefnase hinter der Maske."

Vor allem in der Jugendkultur und auch unter jungen Frauen sind Atemschutzmasken in den letzten Jahren populär geworden.
Verena Blechinger-Talcott, Professorin der Japanologie

Neben den gesundheitlichen Aspekten dienen die Masken aber inzwischen auch dazu, vermeintlichen Schönheitsidealen gerecht zu werden. "Vor allem in der Jugendkultur und auch unter jungen Frauen ist in den letzten Jahren populär geworden, die Maske auch aufzusetzen, wenn man keinen Heuschnupfen hat", sagt Blechinger-Talcott. Das Tragen von Masken folgt dem japanischen Schönheitsideal; viele Menschen in Japan sehnen sich nach einem geheimnisvollen, mystischen Look. Die Masken helfen dabei, die Augen besonders zu betonen und das Gesicht insgesamt schmaler wirken zu lassen. Außerdem wird in Japan besonders von jungen Frauen erwartet, immer perfekt geschminkt zu sein. Wenn man ungeschminkt beispielsweise schnell etwas einkaufen möchte, kann die Maske dabei helfen, das Gesicht zu verdecken.

Einen weiteren wichtigen Aspekt sieht die Professorin darin, dass die Masken vielen eine Möglichkeit bieten, sich unnahbar – fast unsichtbar – zu machen. Im dichten Feierabendgedränge gehen Rücksicht und Zurückhaltung auch in Japan häufig verloren. "Gerade in den vollen Pendlerzügen der Millionenmetropolen, in denen man oft eine oder auch zwei Stunden eingeklemmt zwischen vielen Menschen verbringt, sehnen sich viele nach Anonymität", sagt sie. Mit Maske sei man weniger präsent und daher auch nicht ansprechbar, könne sich zurückziehen und somit auch ein wenig Freiraum für sich schaffen, so die Japanologin.

K-Pop machte die Atemschutzmaske als Accessoire groß

Im asiatischen Raum erkannten renommierte Modelabels das Potenzial des im rasanten Tempo wachsenden Marktes für Atemschutzmasken. Für David Kurt Karl Roth, vom bekannten Berliner Modeblog Dandy Diary, gibt es eine Vielzahl von Gründen, warum Atemschutzmasken zu einem popkulturellen Phänomen werden konnten, wie er im Gespräch mit ze.tt erklärt. So führten nicht zuletzt einflussreiche Modemarken mit besten Kontakten zu Influencer*innen dazu, dass die Masken im hippen Kontext einem Millionen-Publikum präsentiert werden konnten. Zuletzt wurden etwa Supermodels wie Bella Hadid oder Kendall Jenner mit Masken gesehen.

Mittlerweile gibt es sie in allen möglichen Farben und Mustern, die in ihrer Optik mehr einem trendigen Nike-Sneaker ähneln als einem Hygieneartikel. Von kunstvollen Tiermotiven bis zu neonpink-türkisfarbenen Rautenmustern ist für jeden Geschmack etwas zu finden. In den vergangenen beiden Jahren wurden vor allem schwarze Masken im Ninja-Stil zum Modetrend. Als bekannte K-Pop-Bands anfingen, sie zu tragen, kauften die Massen die Atemschutzmasken nach.

Nach und nach nahmen weitere Modelabels Atemschutzmasken in ihre Kollektionen auf. Das chinesische Unternehmen Freka, welches sich selbst als "Designer facewear brand" beschreibt, bietet Atemschutzmasken um 100 US-Dollar das Stück an und heuert Influencer*innen dafür an, sie reichweitenstark zu bewerben.

Das chinesische Unternehmen Airpop ist darauf spezialisiert, Masken als stylisches Modeaccessoire zu verkaufen. Der Gründer Chris Hosmer verglich in einem Interview mit dem Magazin Vox Masken mit Sonnenbrillen: "Wenn es heute keine Sonnenbrillen gäbe und Sie einen Investor für Sonnenbrillen gewinnen wollten, würden Sie verrückt klingen", sagt Hosmer. "'Hey, wir werden dieses Ding, das Fenster zu Ihrer Seele, den kommunikativsten Teil Ihres Körpers, verdecken, indem wir etwas davor stellen, damit Sie es nicht sehen können'. Sie würden sagen: 'Was? Das ist doch dumm. Niemand würde das tun!'" Bei Masken sei das nicht anders, sagte Hosmer.

Masken auf den Laufstegen der Welt

Die mediale Omnipräsenz und Hysterie um Covid-19 führt aktuell weltweit zu einen regelrechten Run auf Atemschutzmasken: Apotheken können den Bedarf nicht decken, bei Amazon kommt es zu Lieferengpässen und 02Today und Vogmask – die zwei Größen im Mundschutz-Business – kommen mit ihrer Produktion gar nicht mehr nach. Das Coronavirus verursacht Verluste bei Modeunternehmen – wird all das ein Umdenken über die Atemschutzmaske als Fashionaccessoire bedeuten? "Ich gehe davon aus, dass auch in der Post-Covid-19-Ära in Europa verstärkt Face Masks getragen werden", sagt David Kurt Karl Roth.

Ich gehe davon aus, dass auch in der Post-Covid-19-Ära in Europa verstärkt Face Masks getragen werden.
David Kurt Karl Roth, Modeblogger

Nach David Kurt Karl Roth reflektiere Mode immer die Gesellschaft und deren Themen. In einer Gesellschaft, in der sich Menschen zunehmend abschotten, in der die Notwendigkeit der menschlichen Interaktion abnimmt, somit auch die Mimik eine weniger wichtige Rolle spielt, hätte die Atemschutzmaske als modisches Accessoire ein enormes Potenzial. Außerdem spiele die Selbstoptimierung heute eine sehr wichtige Rolle – eine Krankheit könne man sich da keinesfalls erlauben.

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Gegen das Coronavirus helfen Atemschutzmasken nicht

Im Hinblick auf den medizinischen Nutzen von Atemschutzmasken herrscht im Übrigen unter Mediziner*innen weitgehend Einigkeit. So verweist das Robert-Koch-Institut auf Anfrage darauf, dass es keine hinreichenden Belege dafür gebe, dass das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes das Risiko einer Ansteckung für eine gesunde Person, die ihn trägt, signifikant verringert. Außerdem kann nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Tragen einer Maske in Situationen, in denen dies nicht empfohlen ist, ein falsches Sicherheitsgefühl erzeugen, durch das zentrale Hygienemaßnamen wie eine gute Händehygiene vernachlässigt werden können. David Kurt Karl Roth sieht daher insbesondere Eltern in der Pflicht, ihre Kinder darüber aufzuklären, dass die modischen Atemschutzmasken nicht gegen das Coronavirus schützen.

In den Atemschutzmasken als modisches Accessoire sieht Roth aber auch eine Möglichkeit, wie sich die Mode insgesamt vielfältiger entwickeln könnte: "Atemschutzmasken bieten eine neue Spielfläche für Design, der Look hat meist etwas futuristisch-apokalyptisches.", sagt er. Außerdem würde die Mode immer funktionaler werden, daher kann man laut ihm davon ausgehen, dass schon bald eine Marke eine funktionierende, ästhetische Maske auf den Markt bringt, die auch in Europa erfolgreich sein könnte.

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