Sie heißen beide Christian. Sie leben beide mit spinaler Muskelatrophie, einem seltenen Muskelschwund. Sie bezeichnen sich beide als Nerds. Und sie teilen eine Leidenschaft für sämtliche Spielarten des Sex: Von monogamer Beziehung über Polyamorie bis zu BDSM kennen Christian Bayerlein und Christian Kiermeier alles. Für sie steht ihre körperliche Behinderung nicht im Widerspruch dazu, ihren Körper lustvoll zu erleben.

Beide betreiben Blogs zum Thema Sexualität und Behinderung, um ihr privates Erleben in die Gesellschaft zu tragen: Sex und Behinderung sind kein Widerspruch. Bayerlein bloggt auf Kissability mit Kollegen*innen rund um die Themen Partnerschaft, Fetisch und Sexualassistenz. Auf Kiermeiers Blog Sexabled geht es vor allem um die Themen BDSM, Transgender und Onlinedating mit Behinderung.

Wir haben mit ihnen gesprochen, wie es in unserer Gesellschaft um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Bereich der Sexualität bestellt ist.

ze.tt: Christian und Christian, wie kamt ihr dazu, Blogs zum Thema Sexualität und Behinderung zu starten?

Christian Kiermeier: Die Idee entstand über Datingseiten, weil mir dort viele Leute geschrieben haben, dass es total spannend sei, wie ich meine Sexualität mit meiner Behinderung ausleben würde. Die Leute haben mir gesagt: Schreib doch mal was zu diesem Thema. Und irgendwann reifte dann die Idee, einen Blog zu starten.

Christian Bayerlein: Die Idee hatte ich 2013, weil ich damals dachte: Da müsste man eigentlich mal mehr machen. Die Netzwerke und Angebote, die es gab, waren mir zu therapeutisch. Ich wollte diesen explizit sexpositiven Aspekt reinbringen. Ich habe mich damals gefragt: Wie macht man das am besten? Eine Idee war auch, ein Institut zu gründen, aber das war dann zu aufwändig. Das Beste, was ich mit meinen Ressourcen machen konnte, war anzufangen zu schreiben, was mir einfällt und Links zu sammeln. Ich wollte den Anstoß geben, anders über das Thema Sex und Behinderung nachzudenken.

Die Menschen haben oft gar keine Vorstellung von Lust und Behinderung.
Christian Kiermeier

Warum ist es wichtig, dass behinderte Menschen öffentlich über Sex sprechen?

Kiermeier: Menschen mit Behinderung wird oft die sexuelle Lust abgesprochen. Auf Datingseiten habe ich Sprüche gehört wie: "Jetzt sind ja hier schon Behinderte unterwegs – ich dachte, die hätten gar kein sexuelles Verlangen." Oder: "Ich dachte für solche Sachen wären die Assistenzkräfte zuständig." Die Menschen haben oft gar keine Vorstellung von Lust und Behinderung. Und weil sie es sich nicht vorstellen können, gehen sie davon aus, dass das Thema nicht existiert. Nur indem wir das Thema in die Öffentlichkeit tragen, können wir dem entgegenwirken.

Bayerlein: In den Mainstreammedien werden Menschen mit Behinderung oft als asexuelle Wesen dargestellt oder es wird überhaupt nicht über Sexualität und Behinderung gesprochen. Wenn überhaupt wird über Sexualassistenz berichtet: Da tritt der behinderte Mensch wieder als Leistungsempfänger*in auf. Das passt so schön ins Bild: Der behinderte Mensch als der*die Bedürftige. Und dem wollte ich halt etwas entgegensetzen: Dass der behinderte Menschen auch etwas Wertvolles ist, dass er*sie auch etwas beitragen kann und dass es an ihm*ihr viel zu entdecken gibt, wo man eine Erfüllung finden kann.

Wie sind die Reaktionen auf Menschen mit Behinderung, die wie ihr öffentlich über Sexualität sprechen?

Kiermeier: 98 Prozent der Menschen, die von meiner Arbeit wissen und damit in Berührung kommen, finden sie gut. Es gibt natürlich Ausnahmen. Auf meinem

Facebook- oder

Instagram-Account gibt es immer mal wieder einen negativen Kommentar oder einen Troll. Als ich da zum Beispiel den

Vice-Beitrag über mich gepostet habe, hieß es in einem Kommentar, ich wäre ja pervers und die Personen, mit denen ich Sex hätte, wären auch pervers. Aber wie gesagt: Die absolute Mehrheit der Menschen sieht es positiv.

Bayerlein: Total unterschiedlich. Ich war ja mal Behindertenbeauftragter von Koblenz und bin unter anderem wegen eines Interviews in dem Themenbereich Sexualität und Behinderung aus dem Amt geflogen, weil ich der CDU und anderen konservativen Parteien im Stadtrat zu offen mit dem Thema Sex umgegangen bin. Ansonsten habe ich aber auch ganz viel positive Rückmeldung – gerade von Leuten, die das Thema selber auch betrifft und die sich da sehr repräsentiert fühlen.

Wie lebt ihr momentan eure Sexualität?

Kiermeier: Ich habe in den letzten drei, vier Jahren einen Freund*innenkreis gefunden, in dem ich meine Sexualität sehr freizügig und offen ausleben kann. Es ist so ein Spielkreis, würde ich sagen. Wir treffen uns regelmäßig und dann verbringen wir Zeit zusammen, in der wir eben auch Sex haben.

Bayerlein: Ich lebe meine Sexualität jetzt seit einigen Jahren in einer festen, monogamen Beziehung. Aber es war auch schon anders. Ich habe auch schon polyamor gelebt – und auch schon sehr Single-artig, also mit Affären und so. Ich habe also diverse Spielarten ausprobiert.

Gab es Phasen in eurem Leben, in denen ihr eure Behinderung als Einschränkung empfunden habt, was das Finden von Sexualpartner*innen angeht?

Kiermeier: Ja. Gerade in den frühen Jahren meiner Pubertät ist es mir wirklich schwer gefallen, mir vorzustellen, dass mich irgendjemand attraktiv findet. Das war eine schwierige Zeit mit einer Operation, in der ich auch eine Magensonde hatte. Mir hing ein circa 25 Zentimeter langer Schlauch aus der Bauchdecke. Da dachte ich mir: Wer findet denn das bitte anziehend?

Bayerlein: Ja, definitiv. Also nicht meine Behinderung als solche, sondern eher auf der Ebene der Attraktivität. Auch ich habe in der Pubertät sehr an mir gezweifelt – also an meiner sexuellen Wirkung auf andere. Ich dachte, Menschen fänden mich aufgrund meiner Behinderung nicht attraktiv. Ich war immer der beste Freund und wurde immer in diese Schublade gesteckt.

Was würdet ihr anderen jungen Menschen mit Behinderung sagen, die sich vielleicht nach einem erfüllten Sexleben sehnen?

Kiermeier: Das erste und absolut Wichtigste ist: Akzeptiert euch selbst. Nur dann akzeptieren euch andere Menschen. Und danach: Seid mutig! Traut euch raus in die Welt. Versteckt euch nicht.

Bayerlein: Wenn ich zurückgehen könnte in meine eigene Jugend, dann würde ich mir selber sagen, dass ich wesentlich attraktiver bin, als ich mich damals fühlte. Man hat ein Selbstbild, das von außen geprägt ist und das sehr negativ ist – das aber nicht mit der Realität übereinstimmt. Man sollte seine innere Schönheit mehr nach außen kehren – man sollte da mutiger sein. Das, was uns die Werbebotschaften oder auch die Gesellschaft vermitteln, ist nur ein Ausschnitt der Realität.

Wir haben noch sehr viele Sonderwelten – und je weniger wir davon hätten, desto mehr Chancen würden sich auch im Alltag ergeben, eine Partner*innenschaft zu finden.
Christian Bayerlein

Wie inklusiv ist Deutschland, wenn es um das Thema Sexualität und Behinderung geht? Welche Barrieren gibt es?

Kiermeier: Erotische Etablissements wie SM-Studios, Swingerclubs oder Bordelle sind überhaupt nicht auf behinderte Menschen eingestellt. Ich habe mal für einen Beitrag auf

Sexabled 15 Swingerclubs in München angeschrieben und gefragt: Wie ist der Zugang zu eurem Laden? Komme ich da mit dem Rollstuhl rein? Ganz ungeachtet der Toiletten und Duschen. Meine Frage war erst einmal: Komme ich überhaupt in den Laden rein? Von 15 Läden haben mir elf überhaupt nicht geantwortet. Und vier haben mir mitgeteilt, dass ihr Geschäft absolut nicht rollstuhltauglich ist. Da muss man sagen, haben wir in Deutschland noch einiges vor uns.

Bayerlein: Was verändert werden muss, ist die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im Allgemeinen. Behinderte Menschen tauchen im Alltag relativ wenig auf und werden deswegen auch nicht als potenzielle Sexualpartner*innen wahrgenommen – sei es in der Schule oder auf der Arbeit. Wir haben noch sehr viele Sonderwelten – und je weniger wir davon hätten, desto mehr Chancen würden sich auch im Alltag ergeben, eine Partner*innenschaft zu finden.

Habt ihr Ideen, wie sich die Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Bereich der Sexualität verbessern lässt?

Kiermeier: Zunächst muss mehr über das Thema Sex und Behinderung gesprochen werden, damit die Thematik Aufmerksamkeit bekommt. Und dann braucht es bauliche Barrierefreiheit. Die Betreiber*innen von Swingerclubs und ähnlichen Etablissements müssen zum Beispiel darauf achten, dass ein Aufzug oder eine Rampe am Eingang vorhanden ist.

Bayerlein: Unsere Umwelt muss auf jeden Fall barrierefreier werden. Wir müssen inklusiver werden – der Arbeitsmarkt, die Freizeitangebote, der Wohnungsmarkt. Die Separation muss aufhören. Wir müssen für jeden behinderten Mensch, der sie braucht, eine persönliche Assistenz gewährleisten, statt ihn*sie ins Heim zu schicken. Das wäre eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, dass jede*r mit Behinderung überhaupt ein normales Leben leben kann. Ich bin da sehr privilegiert: Ich habe eine persönliche Assistenz, ich habe einen Arbeitsplatz, ich bin viel unterwegs und ich habe eine gute Bildung. Aber das ist halt leider nicht der Standardfall. Und das liegt nicht an den Menschen, sondern an der Gesellschaft.

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