Die Maskenpflicht ist ein Problem für Gehörlose. So las es sich aus einigen Medienberichten in den vergangenen Wochen, das Bundesland Baden-Württemberg hat die Maskenpflicht für Gehörlose deshalb sogar aufgehoben. Wenn Julia Probst und Florian Kufner diese Berichte lesen, ärgern sie sich. Beide sind gehörlos. "Man muss differenzieren und zwischen zwei Gruppen unterscheiden – es gibt die Schwerhörigen und es gibt die Gehörlosen", erklärt die gehörlose Aktivistin und Bloggerin Julia. "Die Schwerhörigen sind viel stärker von der Maskenpflicht betroffen, durch die Maske hören sie Stimmen nur gedämpft und können auch keine Lippen lesen. Entgegen des hartnäckigen Mythos sind aber längst nicht alle Gehörlose Lippenleser*innen."

Ohnehin sei das so eine Sache, denn nur etwa 30 Prozent der deutschen Sprache seien unmissverständlich ablesbar. "Lippenlesen ist wie das Ausfüllen eines Lückentextes, eine Kombination aus Abgelesenem, Körpersprache und Mimik", sagt Julia. Auch die Debatte unter Gehörlosen, die auf die Thematisierung der Maskenpflicht folgt, macht klar: So einfach ist das nicht. In einem Video kritisieren Aktivist*innen wie Lela Finkbeiner und Corinna Brenner, dass das wahre Problem ein ganz anderes sei: Der fehlende Zugang zu Informationen. "Es gibt nur Texte in komplexem Deutsch, das ich nicht verstehen kann", sagt Finkbeiner in dem Video. "Ich brauche Informationen in Gebärdensprache." Die aber werden von kaum einem Medium angeboten.

Die Muttersprache vieler Gehörlosen ist die Gebärdensprache

Florian Kufner sieht das genauso. Wenn er zum Bäcker oder in den Supermarkt geht, zeigt er mit Gebärden, was er möchte. An den Mundschutz hat er sich mittlerweile gewöhnt. Der 27-Jährige, der Jugendbeauftragter beim bayerischen Landesverband der Gehörlosen ist, liest keine Lippen. Er hat im Gegenteil sogar die Sorge, dass hörende Menschen mit durchsichtigem Mundschutz denken könnten, sie bräuchten jetzt einfach nur noch mit ihm sprechen und nicht mehr mit Gesten auf ihn eingehen. Weil es eben diesen Mythos gibt, dass alle Gehörlose Lippen lesen. Und weil die Berichterstattung rund um die Maskenpflicht tatsächlich suggeriert, dass die meisten Gehörlosen Lippen lesen. Florians Muttersprache aber ist, wie die vieler Gehörloser, die Gebärdensprache, seine ganze Familie ist gehörlos. Per Chat schreibt er ze.tt, was ihn im Moment stört.

Wir erfahren meist als Letzte, was aktuell passiert. Das finde ich ungerecht.
Florian Kufner, Jugendbeauftragter des bayerischen Landesverbands der Gehörlosen

Als die Corona-Pandemie ausbrach, kam Florian nicht so schnell an Informationen wie seine hörenden Mitmenschen. Die Fernsehansprache von Merkel? Konnte er nicht verstehen. Die täglichen Pressekonferenzen der Regierungschefs, des Robert Koch-Instituts (RKI) und des Gesundheitsministeriums? Blieben für ihn stumm. Es dauerte Wochen, bis die Regierungen Gebärdensprachdolmetscher*innen engagierten, die die Ansprachen übersetzten, meistens erst nachträglich. Die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion Corinna Rüffer hatte den Hinweis an Jens Spahn vorgetragen, er versprach Besserung. Seitdem steht an der Seite von Lothar Wiehler, dem Präsidenten des RKI, tatsächlich eine Gebärdensprachdolmetscherin, die Live übersetzt.

"Alle sagen immer, Barrierefreiheit ist selbstverständlich. Sie denken dabei aber oft an Rollstuhlfahrer*innen und streichen wichtige Bedürfnisse, die wir Gehörlosen im Leben realistisch haben. Die Regierung schiebt die Zuständigkeit immer wieder zum deutschen Fernsehen, das wiederum an die Regierung zurückweist. Wir drehen uns im Kreis", schreibt Florian. Der 27-Jährige informierte sich in dieser Zeit vor allem über Facebook oder auf tagesschau.de, was über Pressekonferenzen nachher geschrieben wurde. Untertitel gibt es bei den Rundfunkanstalten der ARD, so seine Erfahrung, aber die allermeisten Medien setzen keine Gebärdensprachdolmetscher*innen ein. "Wir erfahren meist als Letzte, was aktuell passiert. Das finde ich ungerecht."

In anderen Ländern sind Gebärdendolmetscher*innen längst Standard

Was aktuell abläuft, so kritisieren Florian, Julia und einige andere Aktivist*innen in sozialen Medien, ist ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. In anderen Ländern, den USA oder Italien zum Beispiel, sind Gebärdensprachdolmetscher*innen bei offiziellen Pressekonferenzen längst Standard – und garantieren auch für Gehörlose einen vollen Informationszugang in Echtzeit. "Bis heute gibt es bei den Pressekonferenzen der Bundespressekonferenz nur Gebärdensprache, weil der Fernsehsender Phoenix die Gebärdensprachdolmetscher*innen organisiert", sagt Julia Probst. Gebärdensprache bei anderen Sendern: Fehlanzeige.

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft anerkennt, dass Barrierefreiheit kein Luxus, sondern ein Menschenrecht ist.
Julia Probst, Bloggerin und Aktivistin

Offizielle, direkte Informationen zum Coronavirus gibt es dieser Tage vor allem über Telefonhotlines. Wer Symptome spürt oder Fragen hat, kann sich an diese oder jene Nummer wenden. Für Florian, Julia und viele andere ist auch das ein Problem: "Ich muss dann über Tess anrufen, ein Telefondienst für Gehörlose. Das ist umständlich und geht nur mit guter Internetverbindung", sagt Florian. Auf dem Display der Behörden erscheint dann außerdem die Rufnummer des Dienstes – eine 0180er-Nummer, wie bei Service-Diensten, bei denen die Kosten des Anrufs aufgeteilt werden. "Der Anruf wird dann öfters abgelehnt."

Auch über die sozialen Medien kann der 27-Jährige sich nur bedingt informieren. Instagram, das Medium der Fotos, mittlerweile vor allem aber Videos, bleibt für ihn meist stumm. "Es gibt zwar öfter Untertitel, aber auch die helfen manchen Hörbehinderten nicht, weil ihr Sprachniveau vielleicht nicht so hoch ist. Bei Untertiteln verstehen sie dann nur einen Teil, durch Gebärdensprachdolmetscher*innen bekommen sie das volle, klare Bild." Entgegen der naheliegenden Vermutung, dass geschriebener Text das Problem doch lösen könnte, bringt es einige Gehörlose nicht wirklich weiter: Ihre Muttersprache sind die Gebärden, Schriftdeutsch ist für sie wie eine Fremdsprache.

Die Corona-Krise hat auch positive Dinge angestoßen

Julia Probst hat während der Corona-Krise aber nicht nur schlechte, sondern auch ein paar gute Erfahrungen gemacht: "Lokale Händler haben plötzlich E-Mail-Beratung und Videochats angeboten – das wurde davor immer abgelehnt, weil es zu aufwändig sei. Corona hat hier also eine Entwicklung losgetreten, die hoffentlich auch danach noch bleibt." Für sie selbst habe Corona im Alltag also durchaus etwas verbessert. Aber es habe ihr auch gezeigt, dass viele Dinge erst dann umgesetzt werden, wenn ein Aufschrei durch die Gebärdensprachgemeinschaft geht, wenn sie Druck ausübt. Das kostet viel Energie. Energie, die Julia Probst eigentlich gerne für andere Dinge verwenden würde. Seit mittlerweile elf Jahren engagiert sie sich schon für Inklusion und Barrierefreiheit. "Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft anerkennt, dass Barrierefreiheit kein Luxus, sondern ein Menschenrecht ist. Damit die Teilhabe nichts mehr ist, was man sich erkämpfen muss."