Mit 18 hatte Markus* seine Sexualbegleiterin Ute Himmelsbach zum ersten Mal getroffen. "Er wusste, dass er nicht mehr lange leben wird", erzählt sie. "Und er hat sich die Sexualbegleitung gewünscht. Er hatte einen starken Willen." Wegen der Dauerbeatmung konnte er kaum mehr sprechen. Das lag an seiner Erkrankung: Muskeldystrophie des Typs Duchenne. Das heißt, dass seine Muskeln und später auch die Organe immer schwächer wurden. Er lebte zu Hause, wurde 24 Stunden am Tag betreut. Auch bewegen konnte er sich kaum. Ute Himmelsbach kam also zu ihm.

Für die vierteljährlichen Treffen suchte sich Markus Pop- und Rockmusik aus, "Tage wie diese" von den Toten Hosen zum Beispiel. Dazu ein warmes Licht, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Markus wollte spüren, wie sich ein Kondom anfühlt. Oder sehen, wie die Sexualbegleiterin sich auszieht, denn zuvor hatte sich nie eine Frau für ihn nackt gemacht. "Es sind oft ungewöhnliche Wünsche, die aber nachvollziehbar werden, wenn man den Menschen und seine Situation kennt", sagt die Sexualbegleiterin.

Weil Markus seinen Kopf nicht bewegen konnte, hatte er nie in seinem Leben seinen erigierten Penis gesehen. "Er wollte wissen, wie das bei ihm aussieht", sagt Ute Himmelsbach. Also zeigte sie es ihm in einem Spiegel. Er war neugierig, wie jeder andere Teenager eben auch. Kommuniziert hatten die beiden hauptsächlich über Augenkontakt. Blinzeln bedeutete Ja. Die Augen weit aufzureißen, dass etwas nicht stimmte. Wenn sich Ute Himmelsbach unsicher war, übersetzte Markus‘ Betreuerin die Töne, die keine Worte mehr waren. Sie saß im Nebenzimmer, über ein Babyfon war sie die ganze Zeit über mit den beiden verbunden.

Weil Markus‘ Knochen und Muskeln schwach waren, musste Himmelsbach sehr vorsichtig sein, wenn sie ihn berührte. Meistens hat sie sich im Liegestütz über ihn gebeugt. So hat sie ihn massiert, aber auch mit der Hand befriedigt.

Der Fokus liegt nicht auf der Befriedigung

Anfang Januar forderte die Grünen-Politikerin Elisabeth Scharfenberg eine Kostenübernahme sexueller Dienstleistungen für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung – und erntete heftige Kritik für diesen Vorstoß. Eine solche Forderung sei diskriminierend und zynisch, findet der stellvertretende Bundesvorsitzende der Senioren-Union, Leonhard Kuckart. Zwar hätten auch ältere Menschen unbestritten das Recht auf Sexualität und Partnerschaft, doch sollte man Partnerschaften fördern, etwa durch Kontaktbörsen im Internet und Vermittlungen im Bekanntenkreis.

Gleichzeitig hat Scharfenberg das Thema Sexualität und Beeinträchtigung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darüber freut sich die Sexualbegleiterin Ute Himmelsbach. Dass dann plötzlich von Sex oder Prostitution auf Rezept geschrieben wurde, hat sie jedoch sauer gemacht. "Das steckt die Arbeit der Sexualbegleiter in eine Schublade, die nicht passt."

Denn anders als bei Prostituierten bezahlen ihre Kund*innen nicht für eine bestimmte Dienstleistung, sondern für die gemeinsam verbrachte Zeit. Eine Stunde kostet etwa 120 Euro. "Unsere Arbeit bezieht sich vielmehr auf einen Beziehungsprozess", erklärt sie. "Gefühle und emotionale Nähe sind dabei willkommen." Der Fokus liegt nicht auf der Befriedigung, betont sie.

Ein besonders großer Unterschied zur Prostitution ist dabei die qualifizierte Ausbildung. "Supervisionsbegleitung ist absolut wichtig und unterstützend." Himmelsbach reflektiert jedes Treffen mit ihren Kund*innen, die Begegnungen sind auf einen längeren Zeitraum ausgelegt. Manche ihrer Kund*innen trifft sie mehrere Jahre.

Zu wenig Lebenserfahrung? Es gibt kaum Sexualbegleiter*innen unter 35

Dass ein so junger Mann sich an sie gewandt hat, findet die etwa 50-Jährige nicht ungewöhnlich. "Viele sind froh, dass sie erst einmal bei jemand älteren und erfahrenen sind", sagt sie. "Und ich bin ja nicht ihre private Freundin oder Lebenspartnerin." Nein, sie ist ihre Sexualbegleiterin. Sie hilft Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, ihre Sexualität zu erleben und den eigenen sowie einen fremden Körper kennenzulernen. "Denn jeder Mensch hat Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, Zärtlichkeit und Sexualität", sagt Ute Himmelsbach. "Doch Menschen mit Behinderung haben es da oft schwer." Dabei kann sich jede*r sexuell ausprobieren und kennenlernen. "Irgendwelche Möglichkeiten gibt’s immer."

Im Laufe ihrer Tätigkeit ist sie vielen Schicksalen begegnet. Das ist wohl auch einer der Gründe, weshalb es wenige Sexualbegleiter*innen gibt, die jünger als 35 sind. "Mit Anfang 20 hätte ich mich dem wohl auch nicht gewachsen gefühlt", sagt Ute Himmelsbach. "Weil ich auch ständig auf eine Metaebene gehe und mich auf verschiedene Menschen einlassen muss." Sie glaubt, dass junge Sexualbegleiter*innen nicht genug Lebenserfahrung haben würden. "Da sind noch so viele eigene Themen im Vordergrund, auch bezüglich der persönlichen sexuellen Entwicklung."

Gleichzeitig beklagt sie, dass es zu wenige Sexualbegleiter*innen gibt. "Wir brauchen dringend Nachwuchs", sagt Ute Himmelsbach. Besonders an männlichen Sexualbegleitern fehle es. "Dass es so wenige gibt, heißt nicht, dass es keinen Bedarf gäbe", stellt sie klar. Selbstverständlich haben auch Frauen mit körperlicher oder geistiger Behinderung sexuelle Bedürfnisse. "Aber bei ihnen ist das anscheinend nicht so selbstverständlich."

Das Thema fängt gerade erst an, in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung präsenter zu werden, hat Ute Himmelsbach festgestellt. Dennoch tun sich viele schwer: "Es ist immer eine Gratwanderung zwischen individuellen Freiräumen auf der einen und Fürsorgepflicht auf der anderen Seite", erklärt sie. Häufig, so ihre Erfahrung, wird Sexualbegleitung erst dann zum Thema, wenn bereits Probleme auftreten: Jüngere Menschen zeigen unter Umständen provokantes Verhalten, einige ältere Patient*innen nähern sich dem Pflegepersonal ohne Distanz, gerade bei Demenz.

Bei der Sexualbegleitung tritt die Behinderung in den Hintergrund

Die Herangehensweise von Sexualbegleitung ist langsam und der Fokus aufs Zwischenmenschliche gelegt. "Sie hilft den Menschen dabei, ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen. Es geht dabei schlicht um Teilhabe an der Gesellschaft", sagt Ute Himmelsbach.

Aufgrund der vielen Treffen erinnert sie sich noch gut an Markus. "In unseren Begegnungen erlebte ich ihn als starke lebensbejahende Persönlichkeit. Und seine Behinderung trat während dem emotionalen Erleben in den Hintergrund." Auch wenn Markus wegen seines jungen Alters und seines ausgeprägten Handicaps kein alltäglicher Patient war, wird doch deutlich, dass Sexualbegleitung nichts mit Prostitution zu tun hat.

Markus konnte sich die Sexualbegleitung nur leisten, weil sein Hospiz Spenden gesammelt hatte. Viele Menschen mit Behinderung bekommen diese Möglichkeit nicht.  Mit 20 ist er gestorben. "Er war ein sehr tiefgründiger, sehr positiver Mensch", sagt Ute Himmelsbach. An der Art, wie sie über ihn spricht, wird deutlich, wie intensiv ihre Begegnungen waren, wie sehr sie ihn als Menschen kennengelernt hat.

*Name von der Redaktion geändert