Es ist das Jahr 1987. Die beiden Engel Damiel und Cassiel spazieren durch das geteilte Berlin. Unsichtbar streifen sie über den damaligen Potsdamer Platz in Mitte, den Anhalter Bahnhof in Kreuzberg oder über die Langenscheidtbrücke in Schöneberg und lauschen den Gesprächen der Berliner*innen. Der Himmel über Berlin von Wim Wenders ist nicht nur ein viel beachtetes Stück Filmgeschichte, er zeigt auch ein Berlin in einer Zeit, in der seine Einwohner*innen an einer alles trennenden Mauer entlang wohnen, spielen, leben – eben auch ein Stück Geschichte, die ernste Realität war.

Der Himmel über Berlin ist auch Jo Furchs Lieblingsfilm. Der 38 Jahre alte Softwareentwickler lebt in Berlin und hegt eine große Liebe für die Hauptstadt. Wenn er durch Berlin schlendert, erkennt er immer wieder Orte aus dem Film. Zum Beispiel die Szene auf der Lohmühlenbrücke, die den Westberliner Bezirk Neukölln und Treptow in Ostberlin verbindet – vor der Wende blockierte die Mauer den Übergang. Wim Wenders saß bereits als Schüler auf der Brücke und skizzierte "eine der markantesten Stellen der Stadt", wie er im Audiokommentar zum Film erzählt. In diesem schickt er seine beiden Hauptdarsteller Bruno Ganz und Otto Sander dorthin. Die Engel unterhalten sich darüber, dass sie in ihrer jahrtausendlangen Existenz bereits alles kommen und gehen gesehen haben. Und 2018, 31 Jahre später, besucht Jo Furch dieselbe Stelle, um ein Foto zu schießen und herauszufinden, wie sehr sich das Berliner Stadtbild verändert hat.

Auf der Suche nach Hinweisen der Vergangenheit

Für Jo Furch sollte dieses Foto der Startschuss für Then & Now werden: Ein Projekt, für das er alte Fotos in der Gegenwart nachstellt. "Ich habe große Freude daran gefunden, nach alten Fotos oder Filmszenen zu suchen, die Orte zuzuordnen und dann vor Ort die bestmögliche Version davon nachzufotografieren", sagt Furch. Nach anfänglich viel positivem Feedback aus dem Freundeskreis und dessen Anraten, die Fotos doch zu veröffentlichen, wurde aus dem privaten Hobby schnell ein andauerndes Projekt auf Facebook.

Seitdem ist der 38-Jährige ständig auf der Suche nach historischen Aufnahmen von der Hauptstadt. Fündig wird er meist in Bildersammlungen von Museen, Wikipedia oder direkt auf den Webseiten von Fotograf*innen. Die meisten Fotos zur Vorlage erhält Furch von Chris John Dewitt, ein auf Trinidad geborener, berlinophiler Fotograf, der in den 80ern sowohl West- als auch Ostberlin ablichtete und die Fotos auf Tumblr veröffentlichte.

"Die meisten Orte auf den Aufnahmen von damals erkenne ich sofort wieder. Wenn nicht, suche ich nach Hinweisen", sagt Furch. Dann inspiziert er Straßenschilder, die Namen von Läden oder architektonische Besonderheiten, sucht mithilfe von Google Earth und Street View, oder bittet um Hinweise in Facebook-Gruppen. "Mit so viel Hilfe konnte ich schon Aufnahmen zuordnen, auf denen nur ein halbes Haus und ein Baum zu sehen war", erzählt er. Ist der Ort erst mal gefunden, fährt Furch mit dem alten Foto in der Tasche hin und positioniert sich mit seiner Kamera möglichst genauso wie der*die Fotograf*in Jahrzehnte vor ihm.

Gemeinsames, Ähnlichkeiten und Veränderungen

Im direkten Fotovergleich wird schließlich ersichtlich, wie sehr sich die Stadt verändert hat: Ganze Häuser wurden aufgestockt oder – wie das Grand Hotel Esplanade am Potsdamer Platz – hunderte Meter weit versetzt. Einstige Freiflächen sind heute zugebaut, Brücken ab- und Balkone angebaut. Wieder andere Orte wie die Leipziger Straße, der Spittelmarkt, die Gegend um die Warschauer Straße oder der Ernst-Reuter-Platz sind heute nicht mehr wiederzuerkennen. Erst, wenn man sieht, wie aus dem früheren Eierkühlhaus in Friedrichshain die Universal Music Studios wurden, wie sich ein altes Kino in eine Zara-Filiale verwandelte oder eine Drag-Bar einem Bioladen weichen musste, dämmert es langsam, wie gravierend die Unterschiede zu damals eigentlich sind.

Doch auch das Gegenteil ist beeindruckend. Manchmal finden sich Gemeinsam- oder Ähnlichkeiten, die nach mehreren Jahrzehnten immer noch bestehen: Risse in den Straßen, Straßenschilder, die sich keinen Millimeter bewegt haben, oder Verschmutzungen auf den Säulen des alten Museums, die schon da waren, als Hitler dort sprach. Die Stadt habe sich laut Furch in vielen Teilen visuell wieder daran angenähert, wie sie vor 100 Jahren ausgesehen hat: "Das finde ich persönlich am interessantesten."

An vielen Gebäuden werde die Entstuckung rückgängig gemacht, die Kriegsschäden seien vielerorts behoben und historische Gebäude, wie das Stadtschloss, würden wieder neu aufgebaut. "In Kreuzberg oder Prenzlauer Berg gibt es zusammenhängende Gründerzeit-Ensembles, die unverändert als Filmkulisse für einen historischen Film herhalten könnten", sagt er. Seine liebsten Aufnahmen seien, wenn sich nur das Alltagsleben der Bewohner*innen geändert hat, die Architektur aber gleichgeblieben ist. Wenn also vor demselben unveränderten Gebäude moderne Autos stehen, Menschen in anderer Kleidung vorbeigehen und neue Läden ansässig sind.

Eine Brücke zur Vergangenheit bauen

Jo Furch möchte mit seinem Projekt die Realität vergangener Zeiten für all jene vorstellbar machen, die diese Zeiten vergessen oder nicht erlebt haben. "Wir können uns nur schwer vorstellen, dass Menschen an der Berliner Mauer oder im Dritten Reich gelebt haben", sagt er. "Wir können uns heute ja kaum noch vorstellen, dass es noch vor wenigen Jahren normal war, im Zug, Flugzeug oder Bürgeramt zu rauchen." Indem er die alten Fotos in Kontrast zur heutigen Realität setzt, würde eine mentale Brücke entstehen, die die Menschen und deren Alltag näher an uns heranrückt. Denn wenn wir auf Fotos Kinder im Schatten der Mauer auf einer Straße spielen sehen, die wir heute jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit benutzen, oder durch zwei Säulen hindurchgehen, wo schon Hitler stand, dann mache das unsere Vergangenheit greifbar. Und nur, wer die Vergangenheit begreift, kann sich auch ehrlich mit ihr auseinandersetzen.

Außerdem auf ze.tt: 30 Jahre später – Fotograf zeigt mit Damals-heute-Fotos, wie sich Menschen verändern