Wenn der Körper beim Sex lieber flüchten will, als abzuspritzen, kommt dem Mann ein falscher Orgasmus ganz gelegen.

Nicht alle Männer sind schwanzgesteuert. Sie sind keine lüsternen Peniswesen, die sich 24/7 durch die Gegend rammeln und ihr Saatgut loswerden wollen. Auch Männer haben mal keine Lust auf Sex. Und auch sie kommen in Situationen, in denen sie lieber einen Orgasmus vortäuschen als fertigzumachen. Bei ihnen ist es allerdings schwieriger zu verheimlichen, wenn der Sex gerade nicht gut läuft.

Orgasmus vortäuschen, das tun viele: 70 Prozent der Frauen in Deutschland haben es bereits getan – und 19 Prozent der Männer. Wenn Frauen vortäuschen, dann überzeugen sie ihr Gegenüber mit guten schauspielerischen Leistungen schnell vom erreichten Höhepunkt. Weiße Belege müssen sie ja nicht erbringen. Während sie mit finalem Gestöhne den Sex für beendet erklären können, tragen Männer eine Beweislast, die ohne Special Effects nur schwer zu erfüllen ist.

Immer diese Peniswesen

Für eine gelungene Orgasmussimulation muss in jeden Fall ein Kondom mit ins Lustspiel. Nach den Gestöhne zieht der Mann es sich schnell ab und mogelt es weg. Manche gehen dabei soweit, dass sie das benutzte Kondom mitnehmen und erst draußen entsorgen – aus Angst, jemand könnte das leere Teil finden. Obwohl wahrscheinlich die wenigsten Sexpartner*innen das Kondom nach dem Sex inspizieren wollen.

Meist würde das Orgasmusvortäuschen bei One-Night-Stands vorkommen, sagt Dr. Christoph Joseph Ahlers, Sexualpsychologe in Berlin. "Bei beziehungslosen Gelegenheits-Sexualkontakten via Tinder und Co geht es um Sexual Fastfood, schneller, unkomplizierter Sex als Sexual Meatsnack.

Sex würde hier vor allem der Orgasmusproduktion dienen, es ginge um eine zielgerichtete genitale Stimulation mit dem Endzweck, dass alle dabei kommen. Dabei geht es um Performance. Wenn sich dann abzeichnet, dass Mann nicht kommen kann, dann simulieren manche einen Orgasmus, um gefühlten Leistungsanforderungen zu entsprechen.

Flucht vor dem Versagen

"Für Männer, die so ticken, ist Sex wie Leistungssport", sagt Ahlers. Der Höhepunkt aller Beteiligten muss in einer bestimmten ,nicht zu kurzen aber auch nicht zu langen, Zeit erfolgen, was zu einem enormen Leistungsdruck führt. "Leistungsdruck ist wie ein Giftstoff für das Gehirn, denn daraus resultiert Versagensangst". Sexuelle Funktionsstörungen können die Folge sein: Nachlassende oder ausbleibende Penisversteifung sowie vorzeitiger, verzögerter oder ausbleibender Orgasmus."

Bei Angstgefühlen bereitet sich der Organismus über die Ausschüttung von Stresshormonen auf eine etwaige Flucht- und Kampfsituation vor. "Bei einer Flucht können wir keine sexuelle Erregung gebrauchen", sagt Ahlers. Ein steifer Penis stört beim Flüchten oder Kämpfen, die Erektion verschwindet, der Orgasmus tritt vorzeitig auf oder bleibt aus. "Diese Tatsache kann sich der Mann weder vor sich selbst noch vor anderen eingestehen. Er neigt zur Täuschung, in dem er einen Orgasmus simuliert."

Dass Männer und Frauen beim Sex simulieren, entsteht aus dem Bedürfnis nach Selbst- und Fremdbestätigung. Man will gut gefunden werden, alles richtig gemacht haben, um anzukommen. Durch die leistungskontaminierte Betrachtung der Sexualität in unserer Gesellschaft würde aber "guter Sex" mit einem Orgasmus gleichgesetzt. Und weil alle "guten Sex" produzieren wollen, um es "drauf zu haben" und "zu bringen", täuschen manche Orgasmen vor und bringen sich damit und dabei erst recht um ihr eigentliches, eigenes sexuelles Erleben.

Vorgetäuschte Orgasmen gibt es aber nicht nur bei One-Night-Stands, sondern auch in Beziehungen. Mitte März diesen Jahres veröffentlichten kanadische Wissenschaftler*innen eine Studie, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Sie befragten 230 Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren, die nach eigenen Angaben schon einmal einen Orgasmus in der aktuellen Beziehung vorgetäuscht hatten, nach ihren Motiven.

Gründe dafür waren schlechter Sex, eine schlechte Partnerwahl, zu viel Alkohol oder alles zusammen. Kurz: Umstände, die zu einem niedrigerem Lustempfinden und zu weniger Befriedigung während des Sex' führten. Mit dem Faken wollten die Männer unangenehmen Gesprächen aus dem Weg gehen, Fragen wie "Findest du mich nicht attraktiv?" vermeiden.

Selbst Männer, die eine sexuell und romantisch zufriedenstellende Beziehung führen, täuschen hin und wieder vor. Laut der Studie simulieren sie, um den gemeinsamen Höhepunkt zu inszenieren.

Orgasmus ist nicht Samenerguss

Der Samenerguss wird normalerweise für den Höhepunkt der männlichen Erregung gehalten. Sex soll in einen Orgasmus mit Ejakulation münden. Am besten bei beiden Beteiligten. So, wie eine Frau einen Orgasmus mit Ejakulation haben kann (so genanntes Squirting), so kann auch umgekehrt ein Mann einen sexuellen Erregungshöhepunkt erleben, ohne dass es zu einem Samenerguss kommt. "Erregungshöhepunkt und Samenerguss sind zwei psychophysiologische Vorgänge, die prinzipiell unabhängig voneinander stattfinden können, auch wenn beide in der Regel nacheinander ablaufen", so der Sexualwissenschaftler Ahlers, der sich in seinem Buch Himmel auf Erden und Hölle im Kopf – Was Sexualität für uns bedeutet vor allem mit der Überwindung sexuellen Leistungsdrucks auseinandergesetzt hat.

Entschleunigter Sex – Damit beschäftigt sich auch die Slow-Sex-Bewegung: Keine Handys, keine Orgasmuspflicht, keine Deadlines. Nur zwei Personen, die sich mit viel Zeit aufeinander einlassen und ihrer Lust hingeben. Eine Gelassenheit, die auch bei jedem One-Night-Stand gut tun würde. Zumindest wäre damit das Vortäuschen und die zwanghaften Geilheitsbestätigungen hinfällig.