Wenn du einmal die Woche über neue Film- und Serientipps informiert werden willst, abonniere unseren Newsletter "Popcorn & Couch".

Ein grauer Januarmorgen im Örtchen New Brighton nahe New York. Die Glocke läutet, der erste Schultag im neuen Jahrtausend beginnt. Musikunterricht. Plötzlich kommt Cullen ins Klassenzimmer und erschießt eiskalt die Lehrerin. Der in Schwarz gekleidete Schüler ist ruhig, aber seine Absicht ist klar. Alle sind vor Angst gelähmt, nur die 13-jährige Celeste (Raffey Cassidy) erhebt das Wort. "Tu das nicht. Lass uns zusammen beten." Als Antwort schießt Cullen ihr in den Hals.

Zwei unterschiedliche Leben

Celeste überlebt. Während alle um sie herum in Sorge sind, steckt sie das Erlebte erstaunlich gleichgültig weg und fängt an, aus Langeweile mit ihrer Schwester Ellie (Stacy Montgomery) Lieder zu schreiben. Eines davon tragen die beiden wenig später bei einer Gedenkveranstaltung für die Toten des Massakers vor, eine eingängige, traurige Ballade. Ein echter Hit. Es folgen Demoaufnahmen und plötzlich ist anstatt Celestes Eltern ein grummeliger Manager (Jude Law) immer an der Seite der Mädchen.

Celeste schont sich nicht, absolviert trotz ihrer immer mit einem Tuch verdeckten Halsverletzung das harte Tanztraining und Videodrehs. Sie wolle doch nur mit ihrer Musik die Leute vom zu vielen Grübeln abhalten, ihnen Freude bereiten. Zumindest sagt sie das einem deutlich älteren Postmetal-Gitarristen, mit dem sie auf einem Hotelzimmer schäkert. Sie ist auf dem besten Weg zum Weltstar, mit gerade mal 14 Jahren.

Zeitsprung: 17 Jahre später bereitet sich Celeste (jetzt gespielt von Natalie Portman) auf ein riesiges Homecoming-Konzert in ihrer alten Heimatstadt vor. Ihr Manager ist immer noch an ihrer Seite, von ihrer Familie und Schwester Ellie hat sie sich entfremdet. Trotzdem kümmert sich Ellie um Celestes Tochter Albertine (wieder Raffey Cassidy, Darstellerin der jungen Celeste). Das ist nötig, denn Celeste beherrscht mit Trennungen, Eskapaden und Autounfällen die Schlagzeilen der Klatschblätter. Zu allem Überfluss wird ihre Karriere wieder mit Gewalt verbunden: Am Tag des großen Konzerts schießen Terroristen an einem Strand in Kroatien wahllos auf Urlauber*innen. Sie tragen dabei Masken, die an jene aus Celestes erstem Musikvideo erinnern.

Inspiriert von Michael Haneke und Lars von Trier

Vox Lux startet meisterlich-grausam. Der Amoklauf in Celestes Schule ist eindringlich inszeniert, die Bilder intensiv, aber nicht voyeuristisch übertrieben. Jede Kameraeinstellung sitzt präzise; hier wusste jemand, wie man Atmosphäre erzeugt, ohne plump draufzuhalten. Wie hat das der junge Regisseur und Drehbuchautor Brady Corbet so stilsicher hinbekommen? Immerhin ist Vox Lux erst sein zweiter Langfilm und der 30-Jährige ist eigentlich seit 19 Jahren Schauspieler. Er war meist in TV-Serien und Filmnebenrollen zu sehen – unter anderem auch bei altgedienten Indiefilm-Provokateuren.

Er übernahm etwa Rollen in Lars von Triers Melancholia oder Michael Hanekes US-Version seines makabren Durchbruchshits Funny Games. Bei diesen Meisterregisseuren hat sich Corbet zweifellos einiges abgeschaut. Davon zeugt auch der Erzähler aus dem Off, im Original gesprochen von Willem Dafoe, der wichtige Stationen in Celestes Leben zusammenfasst und Infos preisgibt.

Und wäre es so eindringlich wie in der ersten Filmhälfte weitergegangen, Vox Lux hätte eines der Highlights des Jahres werden können. Doch kaum übernimmt Natalie Portman die Hauptrolle, scheint Corbet der Mut zu verlassen. Die 31-jährige Celeste porträtiert er klischeehaft als dümmliche Diva, die fahrig und cholerisch auf Stilettos durch Luxushotellobbys im Drogenrausch stapft. Wüssten wir nicht, dass sie eine Popqueen darstellen soll, könnte man sie auch für eine abgehalfterte Grunge-Sängerin halten – irgendwo zwischen Courtney Love und Juliette Lewis. Das soll aus der phlegmatischen 14-Jährigen geworden sein? Ein kaum nachvollziehbarer Sprung.

Manchmal ist Indie eben doch besser

Natalie Portman gehört zweifellos zu den begabtesten Schauspielerinnen der Gegenwart, schießt hier aber overactend übers Ziel hinaus. Die Figur lässt ihr keine andere Wahl: Die Popdiva soll wohl an Abstürze realer Massenlieblinge wie Britney Spears oder Mariah Carey erinnern. Aber was ist Corbets Message? Celeste beschwert sich nonstop über mangelnde Musikverkäufe, den Stress, die böse Darstellung der Medien, die Herausforderungen des Mutterdaseins – überhöht sich selbst aber zu einem gottgleichen Geschenk des Pophimmels. Subtil ist das Drehbuch in seiner Symbolik hier nicht. Corbet wollte den Film mit aller Gewalt zeitgemäß machen, verliert dabei aber komplett den Fokus. In Black Swan, ebenfalls mit Natalie Portman in der Hauptrolle, ist das ambivalente Ehrgeizverhalten von Künstler*innen besser in Szene gesetzt worden.

Wer ist schuld an Celestes Misere? Der Schulattentäter, die Musikindustrie, ihre religiöse Erziehung? Jede Erklärung wäre halbgar und die Verknüpfung von Celestes Karriere mit Terror verläuft im Handlungsnirvana. Dabei war das doch eine so großartige Idee! Am Ende egal, denn Vox Lux fasert in eine beliebige Bühnenshow aus, in der Portman von Sia (Chandelier) geschriebene Songs performt, die so leer klingen, wie die zweite Hälfte des Films inhaltlich ist. Bevor die mit Dudelmainstreampop Millionen scheffelte, schrieb sie wunderschöne und dennoch gehaltvolle Popmusik (Breathe me, Soon we'll be found, Day too soon) – wären Sia und Corbet doch bloß beim Indie und Arthouse geblieben. Sias Musik wie Corbets Film hätte es gutgetan.