Bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin können auch Menschen ohne festen Wohnsitz ihr Kreuz auf dem Wahlzettel hinterlassen. Das machen allerdings nicht viele. Liegt es am bürokratischen Aufwand? Ein Besuch in der Berliner Bahnhofsmission am Zoo.

Zur Mittagszeit wird die Schlange von Menschen vor der Bahnhofsmission am Zoo von Minute zu Minute länger. Unter den Wartenden sind viele ältere Leute mit vollgepackten Plastiktüten in der Hand, aber auch junge, die ihre Habseligkeiten in Einkaufswagen mit sich herumschieben. Geduldig warten sie auf ein warmes Mittagessen. Es riecht nach Bratensoße und dem typischen Kantinen-Einheitsbrei.

Bald ist Wahl in Berlin – und es klingt einleuchtend, dass gerade Menschen wie die Wartenden vor der Bahnhofsmission, die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft am drastischsten zu spüren bekommen, etwas an der aktuellen Politik ändern und wählen wollen. Aber die offiziellen Zahlen sagen etwas anderes: Von den geschätzten 3.000 bis 6.000 Obdachlosen in Berlin haben bei der letzten Abgeordnetenhauswahl nur 46 ihre Stimme abgegeben – eine verschwindend geringe Zahl. Obwohl bedacht werden muss, dass zu den Berliner Obdachlosen auch viele Ausländer gehören, die nicht wählen dürfen.

In der Praxis ergibt die geringe Wahlbeteiligung von obdachlose Menschen durchaus Sinn: Sie haben andere Probleme als sich für oder gegen die Wiederwahl von bestimmten Politiker*innen einzusetzen. Dennoch gibt es einige wenige, die auf gar keinen Fall auf ihr Wahlrecht verzichten werden – so wie Detlef, der vor der Bahnhofsmission am Zoo in der Schlange steht. "Klar gehe ich wählen", sagt der 49-jährige mit überzeugender Entschlossenheit. "Mein Wahlbüro ist in der Müllerstraße." Seiner Meinung nach muss sich in der Stadt einiges ändern. "Ich bin aus meiner alten Wohnung geflogen und es ist wirklich schwer, in Berlin eine bezahlbare neue zu finden." Deshalb müsse sich vor allem etwas am Immobilienmarkt ändern. Detlef wirkt aufgebracht, wenn er von Maklern und den hohen Mieten spricht.

„Manche von den Gästen der Bahnhofsmission wissen überhaupt nicht, ob sie heute in Berlin oder in Japan aufgewacht sind.“ – Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoo

Obdachlose wie Detlef müssen sich in dem Bezirk beim Amt melden, in dem sie die Nacht vom 13. auf den 14. August verbracht haben. Dort können sie sich dann ins Wahlverzeichnis eintragen lassen, allerdings müssen sie sich seit mindestens drei Monaten überwiegend in Berlin aufgehalten haben. Außerdem müssen sie ihren Ausweis vorlegen, einen Eid leisten, dass sie das Wahlrecht tatsächlich auch besitzen und in keinem weiteren Melderegister eingetragen sind. Es reicht also nicht, am Sonntag zur Wahl zu gehen – Obdachlose müssen sich vorher darum kümmern.

Ganz schön viel Aufwand. Und es gibt noch weitere Gründe, die obdachlose Menschen daran hindern, wählen zu gehen, wie Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoo, erklärt: "Diese Menschen brauchen erstmal ein Bahnticket, um zum Bezirksamt zu fahren, dann müssen sie bei klarem Verstand sein und dann haben sie vermutlich auch keinen Ausweis mehr."

Viele Menschen auf der Straße haben diesen schon seit Jahren nicht mehr und können so auch nicht wählen. Laut Puhl ist das aber nicht das ausschlaggebendste Problem: 70 Prozent der Menschen auf der Straße seien alkohol- oder drogenabhängig. "Das heißt, die trinken nicht nach Feierabend mal ein Glas Rotwein, sondern sie trinken sehr oft im Bereich zwischen drei und sechs Promille."

Hinzu kämen psychische Erkrankungen und andere Umstände, die Menschen auf der Straße vom Gang zum Bezirksamt abhalten würden: "Manche von den Gästen der Bahnhofsmission wissen überhaupt nicht, ob sie heute in Berlin oder in Japan aufgewacht sind." Diese Leute werden den Weg zur Wahlurne vermutlich nicht machen.

„Politiker scheren sich doch um Leute wie uns einen Scheißdreck.“ – Roy, 29

Auch Detlef kann den Trend zum Nichtwählen unter den Leuten auf der Straße bestätigen: "Viele interessiert das gar nicht, obwohl sie über die Politik schimpfen." Der bürokratische Aufwand sei seiner Meinung nach aber nicht schuld an der niedrigen Wahlbeteiligung. "Wenn die Leute alle mal ihren Lebensstandard von früher beibehalten würden, dann wäre das für sie auch keine Hürde." Aber Alkohol und Drogen würden das verhindern.

Zwei Meter weiter in der Mittagessenschlange ist Roy in ein Gespräch mit einer Frau vertieft. Sie hält eine Flasche Wein in der Hand und nimmt einen großen Schluck, bevor sie sich mit einem Kuss von ihm verabschiedet. Roy ist 29, er lebt ebenfalls auf der Straße. Er schlafe hauptsächlich in seinem Zelt im Tiergarten. Roy wirkt aufgeschlossen und interessiert, wählen gehen will er aber auf gar keinen Fall. "Warum sollte ich? Die Stimmen werden am Ende sowieso umgemogelt", glaubt er. Vor fünf Jahren habe er Angela Merkel mal einen Brief geschrieben, es ging um fehlende Wohnungen in Berlin, bis heute habe er keine Antwort bekommen. "Politiker scheren sich doch um Leute wie uns einen Scheißdreck." Dass er mit seiner Stimme etwas an der Situation verändern könnte, glaubt er nicht.

Dieter Puhl hat nur ein Rezept für mehr Wahlbeteiligung unter den Obdachlosen: "Die beste Prophylaxe zu dem Thema wäre tatsächlich Obdachlosigkeit im Vorfeld zu verhindern oder den Menschen konkreter zu helfen." Damit meint Puhl zum Beispiel die Leute auf der Straße entschlossener bei ihrer Alkoholerkrankung oder psychischen Erkrankungen zu unterstützen. "Wenn ihnen dann geholfen werden würde, dann würden sie wahrscheinlich auch wählen gehen", sagt Puhl.

Detlef ist zwar eine Ausnahme unter den Menschen, die an der Bahnhofmission auf ihr Mittagessen warten, aber er ist entschlossen. "Die Sozialpolitik in Berlin zum Beispiel, die muss sich ganz stark ändern. Es gibt viel mehr Obdachlose als Plätze in Einrichtungen und zu viele müssen im Tiergarten schlafen. Da brauchen wir einfach neue Leute in der Politik."