Das Knarren von unbequemen, dunklen Holztischen und -bänken, in denen sich Studierende mit eingeritzten Botschaften verewigt haben. Das Rascheln von gedankenschweren Seiten, die umgeblättert werden. Das Klicken von Feuerzeugen, die selbstgedrehte Zigaretten in der gähnenden Nachmittagssonne entflammen. Der Sound der Universität klingt vermutlich seit Jahrzehnten gleich. Aber was ist mit den Menschen, die diesen Sound (mehr oder weniger) täglich hören, den Studierenden – haben sie sich verändert?

Ich studiere an der Freien Universität. Hier befand sich vor fünfzig Jahren das Epizentrum der Studierendenbewegung. 1968 versetzten überwiegend junge Studierende Berlin und andere Städte nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke in einen Ausnahmezustand. Die sogenannte 68er-Bewegung wird bis heute romantisch verklärt – und zwar nicht nur von Nostalgiker*innen älterer Semester, auch junge Studierende, die zumeist selbst politisch aktiv sind, erinnern sich wehmütig an den Revolutionsduft der 68er. Damals, als sich Tausende von Studierenden in Audimaxe zu Vollversammlungen drängten. Als man mehr als gefühlt fünf Menschen dafür akquirieren konnte, gegen schlechte Universitätsstrukturen, Kriege, Faschismus und vieles mehr zu kämpfen. Als Studierende noch proaktiv eigene Seminare und Lesekreise gründeten, weil sie unzufrieden mit dem bestehenden Lehrangebot waren.

Generation Scheißegal?

Umgekehrt wird die heutige Generation gerne als unpolitisch, desinteressiert, konservativ abgestempelt. 2014 hieß es in einer Studie von TNS Infratest, die vom Bundespresseamt in Auftrag gegeben wurde, über junge Akademiker*innen: "Die Ergebnisse zeichnen das Bild einer stark ichbezogenen Studentengeneration. Berufliches Vorankommen sowie materielle Werte sind für sie sehr wichtig".

"Wir erziehen eine unpolitische, antiintellektuelle Generation", sagt auch Walter Grünzweig, Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dortmund, in einem Interview mit dem Spiegel. Wir, das sind in diesem Fall die Universitäten selbst. Die Bildungsreformen der vergangenen Jahre haben fast alle Freiräume aus der Universität verbannt, lautet die Kritik vieler Hochschulaktivist*innen – Freiräume, die man 68 noch gehabt hätte. Stattdessen gäbe es nun einen Studienverlaufsplan samt Regelstudienzeit. Wer länger bräuchte, könne bereits ab dem zweiten Semester mit erheblichen Bafög-Kürzungen rechnen. Wie oder vielmehr wann soll man sich politisch engagieren, wenn die Universität eine Fabrik ist, die Studierende möglichst schnell von Immatrikulation zu Abschluss befördern will, lautet die Frage.

1968 war auch nicht alles Gold

Was bei diesen Rechtfertigungen gerne vergessen wird: Auch die heute beinah mythisch verklärten 68er waren nicht alle politisch aktiv. Günter Gaus, 1968 ein TV-Moderator, stellte seinen Talkshowgast Rudi Dutschke mit folgender Einleitung vor: "Diese Studenten sind eine kleine Minderheit. Darüber kann der Lärm, den sie machen, nicht täuschen. Der größere Teil der Studenten ist wahrscheinlich noch immer apolitisch, nicht einmal an Hochschulreformen in dem Maß interessiert, wie wir es uns wünschen sollten. Und innerhalb jener Minderheit, die an Hochschulreformen, an bitter notwendigen, überfälligen Hochschulreformen interessiert ist, innerhalb dieser Minderheit sind die Anhänger Dutschkes wiederum eine kleine Gruppe nur."

In eben diesem Interview antwortete Dutschke auf die Frage, wie viele seiner Gruppe denn angehören, folgendermaßen: "Wir haben in West-Berlin 15 bis 20 Menschen, die wirklich hart arbeiten. Das heißt, sie sind nicht Berufspolitiker, sie sind aber Menschen, die denken, dass sie ihre gesamte Zeit und Tätigkeit und ihr Studium für diese Arbeit der Bewußtwerdung zur Verfügung stellen." Darüber hinaus gebe es etwa 200 Aktive beim SDS, der damals tonangebenden Gruppe, und in ganz West-Berlin etwa vier- bis fünftausend Engagierte, die an Aktionen teilnähmen. Von einer ganzen Generation, die hier für politische Umbrücke gekämpft hätte, kann also nur begrenzt die Rede sein. Auch 1968 gab es eine Masse an Studierenden, die nur ihre Scheine (das ist Prä-Bologna für ECTS-Punkte) sammeln und das Studium beenden wollten. Aber die landeten weder jeden Tag auf dem Cover der Bild-Zeitung, noch saßen sie in Talkshowrunden.

Und heute?

"Ich glaube, das ist der große Unterschied zwischen heute und 68: Es gab eine ganz andere mediale Aufmerksamkeit", sagt Tobias Eisch. Tobias ist einer der Menschen, die man fast nur erreicht, wenn er im Zug sitzt – auf dem Weg zu irgendeinem bundesweiten Treffen oder einer großen Demo oder Klausurtagung. Der 24-Jährige studiert an der Universität Passau. Also eigentlich. Die meiste Zeit seines Studiums hat er der Hochschulpolitik gewidmet. Er ist Mitglied des Vorstands des freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs), ein überparteilicher Dachverband von Studierendenvertretungen in Deutschland, der bundesweit die sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Interessen von Studierenden gegenüber Hochschulen, Politik und Öffentlichkeit vertritt.

"1968 war das, was die Studierenden gemacht haben, neu und anders und hat demnach viel Aufmerksamkeit von den Medien bekommen", meint er. Teach-Ins, Sit-Ins, Unibesetzungen, lange Haare und revolutionäre Parolen – in den verklemmten 60er Jahren konnte man damit in der Bundesrepublik noch schocken. Heute fährt die Bild-Zeitung keine Hetzkampagne mehr auf, weil ein paar Studis ein Unigebäude besetzen. Aber bedeutet das, dass Studierende heute unpolitischer sind? "Also ich war 1968 natürlich nicht dabei", sagt Tobias, "aber Studierende heute sind nicht unpolitisch. Im Gegenteil." Dann holt er Atem. Und beginnt den Gegenbeweis aufzuzählen.

Zu mindestens jeder größeren Universitätsstadt fallen ihm irgendwelche Aktionen ein, die in letzter Zeit von Studierenden organisiert oder mitorganisiert wurden. Das geht von den trockenen, hochschulpolitischen Themen wie Unterfinanzierung und Studiengebühren für Nicht-EU-Studierende, bis hin zu stadtpolitischen und bundesweiten Themen wie den Mangel an bezahlbaren Wohnungen oder das bayerische Polizeiaufgabengesetz.

Der fehlende Schockmoment

Der Versuch, zu messen, welche Generation von Studierenden nun politischer war, 68 oder heute, muss zwangläufig scheitern. Schon allein an der Frage, was politisch sein überhaupt bedeutet: Bin ich schon politisch, wenn ich meine Hausarbeiten gendere? Oder erst, wenn ich Steine auf Polizeiautos werfe? Oder bin ich dann schon nicht mehr politisch? Fest steht: Egal ob 68 oder heute, es waren immer kleine Minderheiten, die wirklich aktiv waren und andere mitzogen. Das bestätigt auch der ehemalige FU-Professor Peter Grottian, der in seinem Leben schon viele Studierendenproteste kommen und gehen sehen hat.

Der Unterschied zu 68: Damals schafften es die wenigen Vollzeithochschulpolitiker*innen, die Gesellschaft zu schockieren. Ihre Protestaktionen waren neu und radikal und überforderten das duckmäuserische Nachkriegsdeutschland. Heute sind nicht nur viele Forderungen ähnlich wie die von 1968, auch die Protestformen haben sich kaum verändert: Besetzungen, Demos, Teach-Ins, Sit-Ins – alle diese Aktionen wurden auch schon 1968 angewandt. Schocken kann man die Gesellschaft damit nicht mehr.

Gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen Protestaktionen heute vor allem dann, wenn deren Initiator*innen es schaffen, einen Diskurs in den sozialen Medien loszulösen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Besetzung der Universität Landau-Koblenz 2015. Etwa 16.000 Menschen studieren hier. "In Landau haben es die Studierenden geschafft, durch gute Pressearbeit und eine kluge Social-Media-Kampagne für Aufmerksamkeit zu sorgen", so Tobias. Die Aktivist*innen schafften es, dass der Hashtag #landaulandunter trendete. Die Folge: Bundesweite Medien berichteten über die Besetzung, obwohl Landau-Koblenz nicht gerade das Epizentrum des bundesweiten Interesses ist.

Die 2014er Studie von TNS Infratest ist nicht die erste, die einer Generation politisches Desinteresse vorwirft. 1961 attestierte die Studie Student und Politik, dass Studierende "kein Ferment politischer Unruhe" darstellten. Ein paar Jahre später fanden die radikalsten Studierendenproteste statt, die die Bundesrepublik bis dahin gesehen hatte. So knarzen 2018 wie 1968 die tatöwierten Holztische, rascheln die vergilbten Buchseiten und klicken die Feuerzeuge in der Nachmittagssonne und werden dies vermutlich auch die nächsten Jahrzehnte noch tun. Genauso wie sich vermutlich auch die kommenden Generationen anhören dürfen, sie wären unpolitisch – und es doch nicht zu sein.