Was wäre, wenn wir die Arbeitszeit in Vollzeit standardmäßig für Angestellte auf 30 statt wie bisher üblich 40 Wochenstunden reduzieren würden?

Das haben sowohl die Gewerkschaft IG Metall als auch die Linkspartei vorgeschlagen. Der Hintergrund unterscheidet sich zwar zum Teil – der Gewerkschaft geht es vor allem darum, strukturwandelbedingte Arbeitsplatzverluste in der Industrie zu minimieren; die Linke will laut Papier "Produktivitätsfortschritte allen zugutekommen lassen und allen ausreichend Zeit für Familie und Sorgearbeit, für politische Einmischung, persönliche Weiterbildung und Muße ermöglichen", – aber der Ansatz mit der 30-Stunden-Woche ist der gleiche.

Ausreichend Zeit für Familie und Sorgearbeit für alle, das klingt nach einem Riesenschritt in Richtung Gleichberechtigung. Denn wenn die Arbeitszeit reduziert würde und zum Beispiel in hetero Familien beide Elternteile 30 statt 20 und 40 Stunden pro Woche arbeiten würden, dann könnten sie sich die Erwerbsarbeit und Sorgearbeit gleichberechtigter aufteilen.

Allerdings ist das in der Realität nicht ganz so simpel, wie VWL-Professorin Friederike Maier erklärt. Sie hat als Beraterin für die Europäische Kommission im Bereich Gleichstellung und Beschäftigung gearbeitet und ist eine der Gründerinnen des Harriet-Taylor-Mill Instituts für Ökonomie und Geschlechterforschung an der HWR Berlin.

Frauen arbeiten mehr in Teilzeit

"Momentan liegen die durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeiten von Männern und Frauen weit auseinander, da Männer überwiegend in Vollzeit, Frauen dagegen oft in Teilzeit beschäftigt sind", sagt Professorin Maier; Studien wie diese des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigen das.

Nicht selten hängt das mit Einkommensungleichheit zusammen – wenn der männliche Partner mehr verdient, ergibt es in vielen Fällen aus finanziellen Gründen Sinn, dass bei einer Familiengründung die Frau in Teilzeit geht. Was sich unter anderem bei der Rente rächt.

Korrespondierend damit brächten Frauen laut Professorin sehr viel mehr Stunden mit unbezahlter Arbeit zu als Männer. Das heißt: Die Mehrzahl der Frauen kümmert sich neben dem Job noch um Haushalt, Familie, Organisation und schultert den Mental Load.

Unter anderem deshalb sei laut Professorin die "Umverteilung der gesamtgesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zwischen Männern und Frauen eine zentrale Notwendigkeit für mehr Gleichberechtigung".

Die Diskussion um die 30-Stunden-Woche bringe zwar durchaus Bewegung in die Debatte, die tatsächliche Umsetzung hinge jedoch von verschiedenen Faktoren ab.

Die 30-Stunden-Woche funktioniert nicht ohne Lohnausgleich

Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Lohnausgleich. Eine 30-Stunden-Woche ist schön und gut, aber wenn dadurch weniger Geld da ist, wird es für viele schwierig – vor allem für Familien. "Ohne Lohnausgleich werden sich viele Paare eine andere Aufteilung ihrer Arbeitszeiten nicht leisten können", sagt Professorin Maier. "Viele Alleinerziehende haben jetzt schon Probleme, mit schlecht bezahlten Vollzeitjobs über die Armutsgrenze zu kommen und das gilt generell für schlecht entlohnte Vollzeitjobs."

Wenn also das Gehalt so niedrig ist, dass neben den 30 Stunden ein Zweitjob fällig wird, bringt das im Hinblick auf gerechtere Zeitaufteilung keinen Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung. Insbesondere, wenn weiterhin Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen existieren: Die anteilige Gender-Pay-Gap schrumpft ja nicht automatisch mit sinkender Arbeitszeit und sinkendem Gehalt.

Höhere Gleichberechtigung durch eine 30-Stunden-Woche hätte folglich nur bei vollem Lohnausgleich überhaupt eine Chance. Und da gibt es unterschiedliche Standpunkte. So hat Arbeitsminister Hubertus Heil die Idee von der 30-Stunden-Woche als geeignete Maßnahme zur Stützung des Arbeitsmarkts bezeichnet – allerdings nur bei teilweisem Lohnausgleich.

"Angesichts der steigenden Produktivität vieler Tätigkeiten und der langjährigen schlechten Lohnentwicklung ist diese Diskussion überfällig – aber natürlich umstritten, nicht nur wegen der aktuellen Corona-Situation", sagt Maier.

Das sollte sich noch ändern

Die 30-Stunden-Woche allein reicht also nicht für mehr Gleichberechtigung. Friederike Maier plädiert zusätzlich für rechtliche Verbesserungen, eine allgemeine Diskussion über Zeitmanagement in unserer Gesellschaft sowie eine grundsätzliche Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Ein Grundproblem ist laut der Expertin, dass die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland sehr träge sei und sich außerdem in erster Linie an den Anforderungen der Unternehmen orientiere: "Die Rechte der Beschäftigten auf flexible Arbeitszeiten entsprechend der individuellen und familiären Bedürfnisse sind sehr eingeschränkt und machen angepasste Lösungen sehr schwierig."

Dabei wirft sie eine entscheidende Frage auf: "Warum geht das nur, wenn der Betrieb Kurzarbeit braucht? Warum nicht, wenn die Beschäftigten mal Kurzarbeit brauchen und dann wieder Vollzeit arbeiten wollen?"

Ohne weitergreifende gesellschaftliche Änderungen und zusätzliche Anreize werde in Sachen Gleichberechtigung wenig passieren – dazu gehöre, dass Männer mehr unbezahlte Sorgearbeit übernehmen, laut Professorin Maier "zum Beispiel über längere Männermonate in der Elternzeit", und dass Kitas und Schulen andere Arbeitszeiten beider Elternteile ermöglichen und unterstützen.

Dazu kommt natürlich auch noch die Umsetzung und Gestaltung von Homeoffice-Arbeit, plus Themen wie familienbezogene Infrastrukturen, Öffnungszeiten, Arbeitswege, Mobilität. Fast alle Lebensbereiche also.

Mehr Freizeit – aber nicht für alle

Dennoch ist die Diskussion wichtig. "Ich bin sehr dafür, dass die Umverteilung der Arbeitszeiten zum Thema wird", sagt Professorin Friederike Maier. "Dafür ist es nützlich, dass sich neue Arbeitszeitstandards entwickeln – die 30-Stunden-Woche als neue Normal-Arbeitszeit wäre sicherlich ein großer Schritt in Richtung neuer Arbeitszeitmodelle."

Doch solange sich die gesellschaftlichen Umstände nicht wesentlich verändern, solange die Mehrzahl der Frauen sich um die Sorgearbeit kümmert und weniger verdient, mag eine 30-Stunden-Woche zwar durchaus mehr Freizeit und Flexibilität bringen – nur leider nicht für alle.