Marie ist eine meiner besten Freund*innen und ihre Unabhängigkeit fasziniert mich schon seit den frühesten Tagen unserer Jugend. Während es in der siebten Klasse noch Streitigkeiten um beste Freund*innen und die Zimmerverteilung bei der Klassenfahrt nach Sylt gab, schien sie nie Probleme damit zu haben, auch mal abseits der Gruppe zu sein und Dinge allein zu tun. Auch in den darauffolgenden Jahren zeigte sie mir immer wieder, dass sie bereits sehr früh für sich selbst die richtige Balance zwischen Alleinsein und Gesellschaft gefunden hatte. Solo auf die Gamescom, im Club tanzen, wenn keine*r der Freund*innen Zeit hat und den Sonntag einfach mit der Angel in der Hand genießen – Marie ist das beste Beispiel dafür, dass es möglich ist und auch schön sein kann, hin und wieder bewusst allein zu sein.

Es gibt viele Menschen, die erst relativ spät im Leben oder sogar nie erkennen, wie wertvoll die Zeit des Alleinseins eigentlich sein kann. Wenn jemand Dinge allein tut, wird das viel zu häufig mit Einsamkeit in Verbindung gebracht – ein Trugschluss, der im schlimmsten Fall dazu führt, dass jede Alltagsentscheidung in Abhängigkeit zum sozialen Umfeld getroffen wird, unabhängig davon, ob man selbst dabei auf seine Kosten kommt oder nicht.

Weshalb ist es so wichtig, auch mal Zeit allein zu verbringen? Psychotherapeut*innen, Buchautor*innen, Theolog*innen und Gesundheitspsycholog*innen haben mir erklärt, warum diese Zeit mit sich selbst wichtig für das eigene Wohlbefinden und der Einzeltisch im Restaurant kein Grund zum Rotwerden ist.

Die eigene Komfortzone verlassen

Jede*r kennt dieses Gefühl: Es gibt diesen neuen Film im Kino, den man unbedingt sehen möchte, aber niemand hat Zeit, mitzukommen. Warum also nicht einfach allein gehen? Viele Menschen scheuen sich davor, das Einzelticket zu kaufen, aber manchmal sollte man einfach über seinen Schatten springen und die Dinge tun, auf die man Lust hat.

Das weiß auch Sonia Lippke, Professorin für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin an der Bremer Jacobs University: "Wenn man mal allein unterwegs ist, muss man sich keineswegs einsam fühlen. Natürlich braucht man manchmal wirklich andere Menschen, aber im Kino, Tanzkurs oder im Restaurant kann man auch gut allein klar kommen und Spaß mit sich selbst haben."

Denn bei Unternehmungen im Alltag ist es wichtig, nicht jede Aktivität von anderen abhängig zu machen und sich davon einschränken zu lassen. Zu Beginn fühlt es sich oftmals gar nicht so angenehm an, die eigene Komfortzone zu verlassen und ohne Begleitung auszugehen, bestätigt Sonia Lippke: "Wenn man sonst überwiegend in der Gruppe oder mit dem Partner unterwegs ist, ist das am Anfang nicht so einfach."

Aus ihrer Sicht ist es wichtig, solche Schamgefühle zu überwinden und bewusst auf Gesellschaft zu verzichten: "Sollte man sich unsicher sein, Dinge ohne Gesellschaft zu tun, ist es empfehlenswert, an das Gefühl anschließend zu denken. Daran, dass man etwas allein geschafft und Ängste hinter sich gelassen hat. Das hilft wiederum auch in Zukunft dabei, sich auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können."

Stärke und Selbstbewusstsein aus dem Alleinsein schöpfen

Wer öfter dazu bereit ist, Dinge ohne Begleitung zu tun, arbeitet gleichzeitig auch an seiner Persönlichkeit, davon ist die Aachener Theologin und Buchautorin Dorothee Boss überzeugt: "Menschen werden viel selbstbewusster, wenn sie allein unterwegs sind. Sie kennen sich selbst besser und wissen, wie sie sich bei Problemen helfen können."

Für Boss sind Menschen, die manchmal gerne Dinge allein unternehmen, keineswegs in einer Sackgasse angekommen: "Bewusstes Alleinsein hat viel mit Selbstpflege zu tun, die Kraft spendet – nicht nur im Alltag, sondern auch in Krisensituationen. Wenn man bestimmte Dinge ganz allein unternimmt, muss man keine Kompromisse eingehen, man kann das tun, worauf man Lust hat, sich selbst fühlen und gleichzeitig weiterentwickeln."

Mit dem Alleinsein verbindet die Theologin eine selbstgewählte, selbstgestaltete Zeit, in der Menschen Dinge tun, die für sie persönlich wertvoll und wichtig sind. Dabei sollten aber nicht unbedingt Smartphone, Laptop oder Fernseher als Ersatz für Gesellschaft dienen: "Wenn man mal allein ist, sollte man das auch akzeptieren und vor allem genießen können. Das bedeutet auch, dass man sich dem Sog sozialer Netzwerke entzieht, für einige Stunden mal nicht erreichbar ist und sich auf eine Sache konzentriert."

Warum fühlt es sich manchmal merkwürdig an, allein wegzugehen?

Wenn man es sich zu Hause auf dem Sofa gemütlich gemacht hat und die Lieblingsserie schaut, dann ist es gar kein so großes Problem, wenn niemand Zeit hat. Beim Mittagessen im Restaurant kann sich das aber schon ganz anders anfühlen, das bestätigt auch Karl-Heinz Ladwig, Psychotherapeut und Professor für Psychosomatische Medizin im Münchner Helmholtz-Zentrum: "Für sich an einem Tisch im Restaurant zu sitzen, stellt für viele Menschen ein Problem und eine Hemmschwelle dar."

Allerdings sieht er hier auch einen wichtigen Ansatzpunkt zum Handeln: "Wer sich im Alleinsein erproben will, sollte das nie unreflektiert tun, sondern bewusst darüber nachdenken. Dabei fällt einem schnell auf, dass man vor allem deshalb nicht gerne allein essen geht, weil man Angst davor hat, dem Gespött anderer ausgesetzt zu sein, die in Begleitung da sind. Wenn man aber genau darüber nachdenkt und sich bemüht, die Situation objektiv zu betrachten, dann erkennt man schnell, dass es die Menschen im Restaurant herzlich wenig interessiert, ob man nun allein oder in Gesellschaft da ist."

Chancen ergreifen und neue Seiten des Alltags kennenlernen

Für Franziska Muri, Lektorin und Autorin des Ratgebers 21 Gründe, das Alleinsein zu lieben birgt die Zeit mit sich selbst letztlich viele Chancen, die kein Mensch verpassen sollte: "Man hat die Freiheit, etwas wirklich ganz so zu tun, wie man es möchte und wann man es möchte. Das gilt zum Beispiel auch für das Reisen: Wenn man eine Stadt besucht, kann man sie mit allen Sinnen wahrnehmen und unbeeinflusst auf sich wirken lassen. Die ganze Welt wird zum Du, weil man nicht auf einen Menschen an seiner Seite fixiert ist."

Zudem schulen diese persönlichen Auszeiten auch den Sinn für die kleinen Dinge im Alltag: "Das intensive Alleinsein führt oftmals dazu, dass man die vielen Mini-Begegnungen, die unweigerlich im Alltag stattfinden, bewusster wahrnimmt und genießt – etwa den kleinen Plausch beim Bäcker oder das Telefonat mit einem Kunden." Gleichzeitig sieht Muri im Für-sich-Sein auch eine Möglichkeit, tiefere Verbindungen mit dem Umfeld wahrzunehmen: "Wir alle sind eingewoben in ein vielschichtiges Netz des Lebendigen. Jedes Musikstück, das ich höre, der Sessel, in dem ich sitze, jedes Essen – all das wäre ohne die anderen gar nicht möglich."

Genau deshalb tut es jedem Menschen hin und wieder gut, Dinge bewusst allein zu tun – dabei gibt es kein Geheimrezept, keine Regeln und keine Einschränkungen, denn nur, wer sich selbst ausprobiert, findet heraus, wie seine individuelle Balance aus Gesellschaft und Alleinsein aussieht.