Nur noch 738 E-Mails am Wochenende checken, nur noch eben dieser eine Call nach Feierabend, nur noch mal hier ein halbes Stündchen. Was Arbeitnehmende so nebenher leisten, versickert oft im Alltag. Die Digitalisierung macht es für Berufstätige in Jobs von Programmierung und Projektmanagement über Redaktion bis Grafik und Design leichter, von überall aus zu arbeiten. Und zwar jederzeit. Doch diese fancy Möglichkeiten führen häufig zu entgrenzter Arbeitszeit.

Nun hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Arbeitgeber*innen die Arbeitszeit ihrer Angestellten lückenlos erfassen müssen; das Aufschreiben von Überstunden sei nicht ausreichend. Etwas genauer erklärt es der Arbeitsrechtsexperte Michael Felser: "Das Urteil verpflichtet die nationalen Gesetzgeber in der EU, die Gesundheit der Arbeitnehmer durch Einhaltung der Arbeitszeit sicherzustellen, indem sie aufgezeichnet wird."

Gesundheit schützen – das klingt ja erstmal ziemlich vernünftig und sinnvoll. Dennoch war direkt im Anschluss ans Urteil die Aufregung groß: Rückständig, leistungsfeindlich und bürokratisch wurde die Entscheidung genannt, der Untergang der schönen neuen Arbeitswelt beschworen. Hölle, Hölle, Hölle. Zu Recht?

Zwei Milliarden Überstunden. Zwei. Milliarden.

Diese reflexhafte Panik ist aus zwei Gründen unnötig. Erstens gilt das Urteil zwar sofort – in Deutschland aber zunächst nur im Öffentlichen Dienst, weil Urteile des Europäischen Gerichtshofs die Staaten unmittelbar verpflichten. In der Privatwirtschaft ändert sich erstmal gar nichts. "Erst, wenn der deutsche Gesetzgeber die Verpflichtung umgesetzt hat, ist das auch für Unternehmen verpflichtend", sagt Michael Felser. Also schön locker weiteratmen.

Und zweitens sind Arbeitszeiterfassung und flexibles Arbeiten bei genauerem Hinsehen gar kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil.

In Deutschland gibt es laut DGB-Chef Reiner Hoffmann gut zwei Milliarden Überstunden pro Jahr; etwa eine Milliarde davon unbezahlt. Im heute-journal machte er klar, dass Arbeitszeit und Gesundheitsschutz zusammengehören.

Und das hat er sich nicht einfach so aus dem Hirn massiert: Laut der Umfrage einer Krankenkasse hat jede*r Zweite in Deutschland das Gefühl, am Rande des Burn-outs zu balancieren. Arbeitszeiterfassung kann helfen, Stress einzudämmen und ausreichend Ruhezeiten zu gewährleisten.

Raus aus der digitalen Privilegien-Bubble

Wer außerdem mal einen Schritt zurücktritt und die Perspektive erweitert, sieht vielleicht ein differenziertes Bild: Das neue Gesetz schützt insbesondere Menschen, in deren Jobs die Ausbeutungsgefahr tendenziell hoch ist – beispielsweise in der Pflege oder in der Paketbranche.

Und generell betrachtet, arbeiten Beschäftigte ohne Arbeitszeiterfassung ja eher mehr als weniger. Das nützt vor allem den Arbeitgeber*innen.

Und nein, wir kehren damit nicht zurück zur Fließbandarbeit. Arbeitszeiterfassung heißt ja nicht, dass wir von exakt 9 bis 18 Uhr arbeiten – sondern, dass wir Extra-Arbeit zu unchristlichen Zeiten notieren und zusammenrechnen. Diese Arbeitszeit kann also durchaus gestückelt sein, solange am Ende durchschnittlich acht Stunden am Tag rauskommen, ist alles prima. Arbeitszeiterfassung ist also für Menschen in digitalen Jobs ganz besonders wichtig.

"Wir wollen nicht auffliegen"

So sieht es auch Arbeitsrechtsexperte Michael Felser: "Digitale Arbeit bedeutet ja nicht, dass der Gesundheitsschutz vernachlässigt werden darf. Flexible Arbeitszeiten sind auch weiterhin erlaubt, die Arbeitszeit muss nur aufgezeichnet werden. Und das ist gerade im digitalen Zeitalter kein Problem."

Seiner Einschätzung nach haben die Befürchtungen einen anderen Hintergrund: "Das Arbeitszeitgesetz passt nicht immer. Nicht selten wird ‚einvernehmlich‘ dagegen verstoßen. Das geht bisher, weil es nicht auffliegt. Die Arbeitgeber wehren sich also in Wahrheit gegen das Gesetz selbst und nicht gegen die Kontrolle."

Es läuft also bisher oft nach dem Motto "Ans Gesetz hält sich sowieso niemand; wir wollen auch nicht, dass das durch Aufzeichnungen auffliegt". Und genau deshalb ist die verpflichtende Arbeitszeiterfassung eine gute Idee.

Ist Datenschutz ein Problem?

Bei der Umsetzung ergeben sich allerdings ein paar Fragen – zum Beispiel die des Datenschutzes. Überwacht uns der*die Arbeitgeber*in bald im Homeoffice? Für Michael Felser ist das übertrieben: "Offen gesagt sehe ich keine Probleme mit dem Datenschutz. Die Arbeitszeit aufzuzeichnen ist ja an sich nichts Problematisches, im Gegenteil. Nur wenn die Tätigkeit selbst kontrolliert würde – also, was macht er oder sie die ganze Zeit im Einzelnen – wäre das ein Problem", sagt Felser.

Und die Aufzeichnung von Arbeitszeit an sich gibt es ja schon lange, sie ist bisher nur noch nicht verpflichtend. "Natürlich ist es denkbar, dass eine Verhaltens- oder Leistungskontrolle stattfindet. Das wäre aber bisher schon genauso möglich. Das neue Urteil ändert daran nichts", so Felser.

Arbeit ist Zeit gegen Geld

Also, einfach mal den kapitalistischen Schockreflex ausschalten und in Ruhe nachdenken. Arbeitszeiterfassung ist nichts Neues, auch Freiberufliche schreiben für Projekte ihre Stunden auf. Unternehmen durften und dürfen die genauen Tätigkeiten ihrer Beschäftigten nicht überwachen. Wir können trotzdem noch auf der Couch unsere Mails checken und im Homeoffice und flexibel arbeiten wie bisher, während Angestellte in bestimmten Jobs besser vor Ausbeutung geschützt werden. Arbeitszeiterfassung dient dabei den Arbeitnehmenden und Unternehmen als Nachweis.

Und wer seine Arbeitszeit aufschreibt, ist damit nicht zwangsläufig minder-motiviert. Auch wenn das häufig impliziert wird, gern verpackt in Aussagen wie "Wenn du deinen Job liebst, dann machst du das doch gern". Hm, ja, nee. Von unbezahlten Überstunden profitieren nämlich die Unternehmen, nicht die Beschäftigten. Arbeit ist, sehr vereinfacht gesagt, eine vertraglich vereinbarte Menge an Zeit gegen eine bestimmte Summe Geld, und das ist auch okay so.