Seit Anfang des Jahres gibt es eine Bildungsinitiative, die es sich zur Aufgabe macht, über Antisemitismus und jüdische Lebensrealitäten aufzuklären – und zwar nicht in der Mehrheitsgesellschaft, sondern dort, wo man ohnehin nach diskriminierungsfreien Räumen strebt: aktivistischen, intersektionalen Gruppen. Das Projekt heißt Jüdisch & Intersektional, dahinter stecken Miriam Yosef und Ina Holev.

Neben Workshops und Fortbildungen erläutern sie auf Instagram beispielsweise, warum Antisemitismus eine intersektionale Herausforderung ist, woher der Begriff der Diaspora ursprünglich stammt, und was falsch an der Frage ist, ob Jüdinnen*Juden weiß sind. ze.tt haben sie erklärt, warum es Jüdinnen*Juden in aktivistischen Kreisen oft schwer haben und warum es einen intersektionalen Ansatz braucht, um Antisemitismus zu bekämpfen.

ze.tt: Miriam und Ina, warum habt ihr das Projekt gestartet?

Jüdisch & Intersektional: Es gab das Gefühl, dass viele jüdische Menschen Ausschluss aus intersektionalen, feministischen Gruppen erleben. Oder Antisemitismus dort sogar reproduziert oder toleriert wird. Die Frustration darüber war ein Motivationsfaktor, dass wir diese Bildungsinitiative starteten. Wir wollen nicht nur über Antisemitismus aufklären, sondern auch jüdische Menschen, die diese Erfahrungen machen, empowern.

Es gibt nicht nur ,die' jüdische Community, es gibt verschiedene jüdische Communities.

Es gab jedoch nicht den einen Moment, in dem wir dachten: Jetzt müssen wir etwas machen. Das Problem ist, dass das Thema jüdische Identität in aktivistischen oder feministischen Räumen wenn überhaupt nur am Rande vorkommt – und das, obwohl unsere Gesellschaft strukturell von Antisemitismus geprägt ist. Dadurch, dass Antisemitismus sehr wandelbar ist und viele verschiedene Ausprägungen hat, findet eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus häufig überhaupt nicht statt.

Wenn sich damit beschäftigt wird, dann oft total getrennt von aktivistischen, antirassistischen Räumen. Oder es findet ein ähnlicher Umgang wie in der Mehrheitsgesellschaft statt: Antisemitismus wird als eine Sache abgetan, die nur bei extremen Randgruppen stattfindet, obwohl Studien zeigen, dass er auch in der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft stark ausgeprägt ist.

Warum findet dieser Ausschluss statt?

Wir glauben, dass es dafür verschiedene Gründe gibt. Ein Grund ist, wie Antisemitismus funktioniert. Wir arbeiten mit dem Ansatz, dass Antisemitismus und Rassismus teilweise unterschiedlich operieren, aber doch verbunden sind. Ein Unterschied ist, dass Jüdinnen*Juden als eine machtvolle Gruppe wahrgenommen werden, die die Banken oder Medien kontrolliert – das sieht man beispielsweise bei Verschwörungsideologien. Jüdinnen*Juden wird also etwas Übermächtiges zugeschrieben. Gleichzeitig werden Jüdinnen*Juden im antisemitischen Denken abgewertet. Diese Gleichzeitigkeit macht es schwer, das Thema in den rassismuskritischen Aktivismus einzubringen, bei dem es verstärkt um Unterdrückungsmechanismen geht.

Es ist eine antisemitische Logik, dass jüdische Menschen als Unterdrücker*innen gekennzeichnet werden und nicht als diejenigen, die selbst Unterdrückung erfahren. Hinzu kommt, dass Antisemitismus gar nicht als aktuelles, heute noch existierendes Problem wahrgenommen wird. Im deutschen Kontext existiert die Annahme, dass Antisemitismus nach der Shoah [Anm. d. Redaktion: Hebräisches Wort für den nationalsozialistischen Völkermord an Juden während des Holocausts] verschwunden sei.

Wie erklärt ihr euch die Reproduktion von Antisemitismus in aktivistischen Räumen?

In einer Gesellschaft, in der sich nicht konsequent mit eigenen Vorurteilen auseinandergesetzt wird, in der nie kritisch über Antisemitismus reflektiert wird, in einer solchen Gesellschaft kann Antisemitismus nicht vernünftig aufgearbeitet werden. Dieses Prinzip, dass Jüdinnen*Juden machtvoll sind, wirkt sich auf ganz viele verschiedene Bereiche aus. Wie zum Beispiel auf israelbezogenen Antisemitismus, bei dem mit einem antisemitischen Blick auf Israel geschaut wird, was Jüdinnen*Juden aus bestimmten Bewegungen ausschließt. Aber ohne die Einbeziehung von Jüdinnen*Juden in diese Diskurse werden antisemitische Narrative immer weiter reproduziert.

Dieser Ausschluss von jüdischen Menschen in aktivistischen Bewegungen ist kausal damit verbunden, dass Antisemitismus dort reproduziert oder zumindest toleriert wird. Das fängt häufig schon damit an, dass beim Aufzählen verschiedener Unterdrückungsformen bei Veranstaltungen Antisemitismus oft nicht mitbenannt wird.

Es ist oft kein wirkliches Verständnis für Antisemitismus da. Manchmal heißt es: Wenn wir Rassismus abdecken, haben wir ja Antisemitismus mit abgedeckt, weil Antisemitismus eine Unterform von Rassismus ist. Das stimmt so nicht unbedingt. Es gibt aber auf jeden Fall Verbindungen, weil es auch Jüdinnen*Juden gibt, die von beidem betroffen sind: Antisemitismus und Rassismus. Deswegen arbeiten wir mit dem Ansatz "getrennt und doch verbunden".

Welche Rolle spielt israelbezogener Antisemitismus?

In einer unserer Präsentationen haben wir ein Meme, auf dem es heißt: Are you a good Jew or a bad Jew? In manchen aktivistischen Räumen ist es so, dass man bei Jüdinnen*Juden prüft, wie sie zu Israel stehen. Und das wird dann als Grund genommen, ob sie sozusagen schützenswert sind und Teil des aktivistischen Raums sein können. Dabei wird ein Doppelstandard für Jüdinnen*Juden in Bezug auf Israel angewendet – Nicht-Jüdinnen*Juden müssen sich dazu nicht positionieren.

Jüdische Perspektiven werden auf die Shoah und den Nahostkonflikt begrenzt.

Das beschreibt auch Max Czollek in seinem Buch Desintegriert euch: Jüdische Menschen müssen immer Auskunft geben zu Themen wie der Shoah, Israel und Antisemitismus. Das stimmt tatsächlich. Es ist sehr wenig Platz, über andere jüdische Themen zu sprechen, zum Beispiel jüdischen Feminismus. Jüdische Perspektiven werden auf die Shoah und den Nahostkonflikt begrenzt. Das ist in der Mehrheitsgesellschaft auch nicht anders als in aktivistischen Kreisen.

Welche Bedeutung haben intersektionale Perspektiven in der jüdischen Community?

Es gibt nicht nur die jüdische Community, es gibt verschiedene jüdische Communities – und deshalb gibt es auch ganz verschiedene Perspektiven auf Intersektionalität oder andere zusammenhängende Themen.

Wir bieten Workshops, Vorträge und Beratungsangebote. Und die richten sich einerseits an eine nicht-jüdische Community. Aber wir wollen auch unter jüdischen Menschen bestimmte Themen ansprechen. Beispielsweise: Wie positionieren wir uns zu Intersektionalität, zu feministischen Themen? Was uns auch ein wichtiges Anliegen ist, ist das Darstellen einer Diversität jüdischer Perspektiven.

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Warum braucht es einen intersektionalen Ansatz, um Antisemitismus zu bekämpfen?

Antisemitismus – wie auch alle anderen Formen der Unterdrückung – ist eine intersektionale Herausforderung. Die Identitäten von jüdischen Menschen sind – wie bei allen anderen Menschen auch – mehrdimensional. Für viele Jüdinnen*Juden interagiert Antisemitismus mit anderen Strukturen der Unterdrückung, zum Beispiel Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus oder Ableismus. Die Sichtbarmachung dieser verschiedenen Identitäten ist wichtig, um Antisemitismus zu bekämpfen.

Antisemitismus – wie auch alle anderen Formen der Unterdrückung – ist eine intersektionale Herausforderung.

Wie ist bisher das Feedback, das euch erreicht?

Bisher relativ positiv. Besonders gefreut hat uns, wenn uns auch jüdische Menschen das Feedback gegeben haben, dass sie sich mit ähnlichen Themen beschäftigen und sie auch nicht so richtig ihren Platz in aktivistischen Communities finden. Viele Leute schrieben auch, dass sie sich mit den von uns angesprochenen Themen bisher noch gar nicht so auseinandergesetzt haben. Zum Beispiel der Frage, warum Jüdinnen*Juden häufig von intersektionalem Aktivismus ausgeschlossen werden.

Als Initiative ist es vielleicht auch einfacher, nach außen zu solchen Fragen aufzutreten, als als Einzelperson. Als Einzelperson macht man sich viel angreifbarer, weil sehr viele persönliche Erfahrungen hinzukommen. Das als Initiative auf der Basis der Bildungsarbeit zu machen, macht das auch für uns einfacher, zu argumentieren und zu arbeiten. Auch weil wir sozusagen aus einer Expert*innenperspektive sprechen und nicht ausschließlich aus einer persönlichen Betroffenheit.

Andere Aktivist*innen werden das kennen: Ihren Erfahrungen wird nur geglaubt, wenn sie ihre schmerzhaften, sehr persönlichen, traumatischen Erfahrungen sichtbar machen. Dass wir diesen Schritt machen von einer Betroffenen- hin zu einer Expert*innenperspektive, gibt uns Handlungsmacht.