Kaum betritt Corinna die Weide, spitzt ein Schaf in etwa 20 Metern Entfernung die Ohren und linst neugierig herüber. Es zögert nicht lange, erhebt sich von seinem schattigen Plätzchen und trottet ihr entgegen. "Michl, unser Eisbrecher", sagt Corinna und krault ihn liebevoll hinter dem Ohr. Er weicht ihr nicht mehr von der Seite und genießt die Aufmerksamkeit sichtlich. Michl weiß Herzen für sich zu gewinnen.

Sein freundliches Wesen trug maßgeblich dazu bei, dass Michl heute ein Leben in Sicherheit führen kann. Hunde aus dem Tierheim adoptieren, Katzen von der Straße aufnehmen, davon hört man öfter. Corinna und Matthias aus der Nähe von Heilbronn in Baden-Württemberg gingen jedoch einen Schritt weiter: Sie adoptierten eine ganze Schafherde. Erfahrungen im Umgang mit sogenannten Nutztieren hatte das Paar nicht. Zwar wuchsen beide mit Tieren auf, aber wie in den meisten Familien üblich, handelte es sich dabei um Katzen, Kaninchen, Hunde und Meerschweinchen. Der Kontakt mit Schafen, Kühen, Schweinen und Co. beschränkte sich bis dato auf Besuche auf einem Bauernhof und Ausflüge in den Streichelzoo.

Die Begegnung, die alles veränderte

Aber manchmal sind es eben ungeahnte Begegnungen, die das komplette Leben umkrempeln. So auch das Aufeinandertreffen von Corinna und Matthias mit Schaf Paula. Paula stand 2014 mutterseelenallein auf ihrer Joggingroute. Das Paar suchte nach der*m Besitzer*in, konnte aber niemanden ausfindig machen. Also entschieden die zwei, Paula in eine andere bestehende Herde zu integrieren, denn Schafe sind nicht gerne allein, sondern leben in Gruppen.

Hobbyhalter*innen sind im ländlichen Raum zwar selten, doch Corinna und Matthias konnten für Paula schnell eine neue Schaffamilie finden. Wie der Zufall es so wollte, sogar in dem kleinen Dorf, in dem das Paar lebt. Seit sieben Jahren sind Corinna und Matthias verheiratet, zurzeit renovieren sie in dem 2.000-Seelen-Ort ihr eigenes Haus.

Fortan besuchten sie ihr Findelkind regelmäßig und nannten es Paula. Auch zur restlichen Herde bauten sie so einen Bezug auf. Eines der Schafe war Michl. Vielen Hobbyhalter*innen dient die Herde jedoch dazu, die jährlich geborenen Lämmer an Schlachter*innen und Züchter*innen zu verkaufen. Aus reiner Tierliebe hält kaum jemand eine große Schafherde. Viele nutzen die Möglichkeit, so ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Nach zwei Jahren war auch in Paulas Herde dieser Moment gekommen.

Ohne lange zu zögern, trafen Corinna und Matthias die Entscheidung, die komplette Herde bei sich aufzunehmen und somit nicht nur den Lämmern, sondern auch den erwachsenen Schafen ein neues Leben zu schenken. Sie gründeten einen Lebenshof und gaben ihm den Namen Live and Let Live. Ein Lebenshof ist ein Zuhause für Tiere, die aus schlechten Bedingungen, der Massentierhaltung oder anderen Notsituationen gerettet wurden. Mit steigendem Bewusstsein für die Bedingungen in der Tierindustrie und die Auswirkungen des Fleischkonsums auf die Umwelt nimmt auch die Anzahl solcher Höfe in Deutschland zu. Der Gedanke der Betreiber*innen: Tiere um ihrer selbst willen und nach ihren Bedürfnissen leben lassen.

Muffin, Ella, Peter: Jedes Schaf hat einen Namen

Dass sie und ihr Mann diesen großen Schritt nicht bereuen, ist Corinna anzumerken. Mit strahlenden Augen beschreibt sie die Charaktere der 24 Tiere, die sie liebevoll ihre Kinder nennt. Sie macht keinen Unterschied zwischen den Schafen und den Katzen, Hunden und Kaninchen, die sie zusätzlich noch zu Hause hat. Das Wort Nutztier gibt es bei Corinna und Matthias nicht.

Idyllisch und friedlich ist es auf der momentanen Weide der wohl glücklichsten Schafe der Welt. Die meisten Tiere sind zurückhaltend und bleiben lieber im Schatten liegen. Ganz und gar nicht scheu ist dagegen Carlo, ein ausgewachsenes Kamerunschaf, das besonders gern gestreichelt wird. "2012 haben wir uns aus gesundheitlichen Gründen dafür entschieden, eine Weile vegan zu leben", erzählt Corinna. "Wir haben schnell gemerkt, dass sich das super anfühlt." Mittlerweile sei das aber nicht mehr der einzige Grund. "Wir sind der Meinung, dass alle Tiere, egal welcher Art, die gleiche Freude am Leben, aber auch Leid und Schmerz empfinden." Corinna sieht Carlo liebevoll an, der wiederum genießt seine Streicheleinheiten sichtlich. "Unsere 24 Schätze zeigen uns jeden Tag, dass wir damit nicht falsch liegen", sagt Corinna.

Arbeit, die glücklich macht

Dreimal täglich geht mindestens eine*r der beiden bei der Weide vorbei und kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Wenn die Zeit es zulässt, verbringen sie hier gemeinsam ihre Feierabende, liegen im Gras und genießen die Ruhe, die von den Tieren ausgeht. Als Wiederkäuer mit vier Mägen liegen die Schafe viele Stunden am Tag einfach nur gemütlich da und beschäftigen sich mit der Verarbeitung des Futters.

Für Corinna und Matthias gibt es allerdings jede Menge zu erledigen. Die Klauen der Tiere müssen gepflegt, die Weiden nach Giftpflanzen abgesucht und die Zäune instand gehalten werden. Alle paar Wochen wird die Weide gewechselt, damit es immer genügend Futter gibt. Eine neue Fläche zu organisieren, ist in dem schwäbischen Dorf zum Glück meist kein Problem. Viele Bewohner*innen, die eine Wiese haben, sind bereit, sie den Schafen zu überlassen. Nach jedem Wechsel muss die Weide mit dem Traktor gepflegt werden, um kahle Stellen und zu viele Hinterlassenschaften zu vermeiden. Im Sommer muss die Schafswolle runter, damit die Tiere nicht unter der Hitze leiden.

Das Wort Nutztier gibt es bei Corinna und Matthias nicht.

Für viele wäre das schon ein Fulltime-Job. Corinna und Matthias gehören jedoch zu der Art von Menschen, die hundert Dinge auf einmal machen – und die trotzdem alles schaffen. Beide haben noch einen Job neben den Aufgaben als Schafseltern. Der 38-jährige Matthias ist gelernter Schreiner und Technischer Betriebswirt und arbeitet als CNC-Fräser. Die 33-jährige Corinna arbeitet als Betriebswirtin in einem nahe gelegenen Büro. Dort hat sie relativ flexible Arbeitszeiten – eine wichtige Bedingung für sie.

Zusätzlich hat sie eigene Büroarbeiten zu erledigen. Ihr Hof ist mittlerweile eine gemeinnützige Gesellschaft geworden, die einiges an Organisation und Bürokratie mit sich bringt. Spendenquittungen ausstellen, die eigene Webseite pflegen, Pat*innen suchen, Infostände organisieren – all das kostet Zeit, Geld und Anstrengung. Freund*innen, Bekannte und Pat*innen der Schafe helfen häufig mit, das meiste stemmt das Paar aber alleine. Corinna wirkt auf den ersten Blick zu zierlich für diese hohe Arbeitslast. Wer sie kennenlernt, bemerkt jedoch schnell, dass dieser Schein trügt. Ihre Arme scheinen nur aus Muskeln zu bestehen – und über den nötigen Willen, anzupacken, verfügt sie sowieso.

Der Plan vom eigenen Lebenshof

In Zukunft soll der kleine Lebenshof noch größer und für möglichst viele Tiere in Not ein sicheres Zuhause werden. Es sollen Begegnungen und Events stattfinden, um Interessierte zu informieren und ihnen das Leben mit den Schafen näherzubringen. Das Paar will eigene Veranstaltungen organisieren, Übernachtungsmöglichkeiten anbieten und Aufklärung betreiben – nicht nur über ihre eigenen geretteten Tiere, sondern auch über die Vorteile einer Lebensweise, die komplett ohne tierische Produkte und Lebensmittel auskommt. Durch die Begegnung mit Tieren, die nur für bestimmte Zwecke gezüchtet werden, wollen sie ein Umdenken in der Gesellschaft bewirken.

Einiges davon tun die beiden jetzt schon. Unterstützer*innen, Pat*innen und Neugierigen geben sie die Möglichkeit, die Schafe auf der Weide zu besuchen. Regelmäßig empfangen sie zum Beispiel Kindergartengruppen oder Erwachsene, die sich in der tiergestützten Therapie ausbilden lassen. Bei Veranstaltungen stellen sie ihr Projekt vor und sind Ansprechpartner*innen für Fragen rund um den Tierschutz und den veganen Lebensstil. "Für uns kam nie infrage, erst auf den perfekten Zeitpunkt oder ein geeignetes Grundstück zu warten, um unseren Traum zu leben", sagt Corinna, während sie Michls Zähne kontrolliert. "Bis wir etwas Passendes für unsere Zukunftspläne gefunden haben, sind wir ein mobiler Lebenshof."

Wir haben jedes einzelne Tier ins Herz geschlossen.

Denn das momentane kleine Haus des Paares liegt mitten im Dorf. Deshalb suchen Corinna und Matthias gerade nach einer Alternative mit einem ausreichend großen Stück Land drumherum. Dort sollen die Tiere direkt in ihrer Nähe wohnen können, damit nicht länger viel Zeit für die Anfahrt zu einer entfernten Weide drauf geht. So könnten auch die Begegnungen zwischen den Tieren und künftigen Gästen besser umgesetzt werden.

Wird ihnen die Verantwortung und die Arbeit nicht hin und wieder zu viel? Reisen, selbst mehrtägige Ausflüge sind wenn überhaupt nur mit viel Vorbereitung und Hilfe von außen realisierbar, sagt Corinna. Freie Tage ohne Verpflichtungen kennen sie nicht mehr. Doch Corinna bereut nichts: "Es ist viel, aber es ist niemals zu viel. Wir haben jedes einzelne Tier ins Herz geschlossen."