Max ist 23 Jahre alt und arbeitet als Buchhalter in Wien. Er hört in seiner Freizeit gerne Metal, schaut mit Freunden American Football und ist ein Fan von Animes, japanischen Animationsfilmen. Max hatte schon immer einen Hang zu Depressionen und dachte mehrmals über Selbstmord nach. Vor drei Jahren begann dann die Angst sein Leben zu regieren. "Alles fing an mit der Angst vor Computerviren. Das hört sich für normal denkende Menschen vermutlich verrückt an, aber für mich war das eine enorme Belastung", erzählt Max heute.

Nach der Angst vor Computerviren kam die Angst, homosexuell zu sein. Auslöser dafür war das Coming-out eines engen Freundes. "Seitdem muss ich bei jedem Mann überprüfen, ob sich in meinem Körper etwas regt", so der 23-Jährige. Der Gedanke wurde zu einem Selbstläufer. "Ich weiß, dass die Gesellschaft mich großteils nicht verurteilen würde, aber ich kann mich selbst nur als hetero akzeptieren, alles andere würde mich innerlich zerstören. Genau davor habe ich Angst."

"Ich wäre eine Gefahr für die Gesellschaft"

Danach kam ihm der Gedanke, dass er pädophil sein könnte. Diese Befürchtung ließ ihn nicht mehr los. "Für mich ist das der Katastrophengedanke schlechthin. Wenn ich wirklich eine pädophile Neigung hätte, wäre ich eine Gefahr für die Gesellschaft", sagt Max.

Max heißt eigentlich nicht Max und traut sich nur per Mail mit mir zu kommunizieren. Er schämt sich zu sehr für seine Gedanken, um persönlich darüber zu sprechen. Max erzählt ausführlich von seinen Ängsten, beschreibt Situationen und verwendet dazwischen immer wieder traurige Smileys. Den Kontakt hat sein Therapeut Richard L. Fellner ermöglicht, er arbeitet als Psycho- und Sexualtherapeut in Wien.

Fellner ordnet Max’ Angst als eine spezielle Form der sogenannten Zwangsgedanken ein. Seit einigen Jahren beobachtet er eine deutliche Zunahme von Männern in seiner Praxis, die unter der massiven Angst leiden, pädophile Neigungen zu haben — obwohl sie nicht pädophil sind.

Sexuelle Fantasien mit Kindern sind das Tabuthema schlechthin

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert in ihrem Klassifikationssystem Zwangsgedanken wie folgt: "Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die den Patienten immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast immer quälend, der Patient versucht häufig erfolglos, Widerstand zu leisten. (…) Angst ist meist ständig vorhanden. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, verstärkt sich die Angst deutlich."

Ist der Gedanke also erst einmal da, ist er schwer wieder loszuwerden und ebenso schwer zu thematisieren. Die Zwangssymptomatik sei zum Teil auch eine Zeitkrankheit. "Sexuelle Fantasien mit Kindern sind heute das sexuelle Tabuthema schlechthin. Darum eignen sie sich gut für Zwangsgedanken. Jede Diskussion rund um das Thema ist aufgeheizt. Von diesem Problem selbst betroffen zu sein, ist eine besonders bedrohliche Vorstellung", erklärt Fellner.

Meist gäbe es ein auslösendes Ereignis für die Angst: "Das kann die körperliche Erregung bei der zufälligen Berührung durch ein junges Mädchen oder einen Buben sein, ein sexuell gefärbter Traum oder als erregend empfundene Filmszenen. Ab diesem Zeitpunkt werden die eigenen Gedankenläufe genau beobachtet und Fantasie-Szenen im Kopf immer wieder durchgespielt", so Fellner. Dieses sich selbst testen und die ständigen Konfrontation mit dem Thema könne zu Depressionen, Selbsthass, Albträumen, Schlaflosigkeit sowie abwertenden inneren Dialogen bis hin zu selbstverletzenden Handlungen führen. Alles, um die Gedanken irgendwie zurück zu drängen. "Wie bei anderen Formen von Zwangsgedanken existiert auch hier eine umgekehrte Kopplung – fühlen sich die Betroffenen allgemein gut, treten die Zwangsgedanken zurück und können ihnen auch selbst als geradezu absurd erscheinen", erklärt der Therapeut.

"Ich habe absolut kein Leben mehr"

Derartige Zwangsgedanken und Ängste haben Max’ Alltag mittlerweile eingenommen: "Ich habe angefangen, nicht-sexuelle Zuneigung zu Kindern mit sexueller Zuneigung zu verwechseln. Ich habe absolut kein Leben mehr. Mein einziges Ziel ist, zu schlafen, um dem Ganzen zu entkommen. Alles, was ich um mich herum sehe, beinhaltet Trigger (Anm. Redaktion: Auslöser) für Zwangsgedanken", erklärt er.

Beim Googeln seiner Ängste stieß er auf die Seite des Wiener Therapeuten. Mittlerweile ist er seit drei Monaten in Therapie. Fellner behandelte bereits zahlreiche Patienten mit ähnlichen Ängsten. "Mein jüngster Patient mit diesen Zwangsgedanken war 16. Ich habe genauso 60-jährige Männer behandelt, die voll im Leben standen und ganz plötzlich diese Ängste entwickelten."

Bisher sind Fellner nur Männer mit diesen Zwangsgedanken begegnet. "Das Thema Pädophilie ist erst seit Kurzem in der aktuellen Intensität in den Medien präsent. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Zeitungsaufmacher über Kindesmissbrauch, Kinderpornografie oder Sexualstraftaten anderer Art berichtet." Bereits der Sprachgebrauch mache das Thema zu einem männlichen. Zudem seien weibliche Übergriffe und Misshandlungen an Kindern bisher weniger bekannt und so gut wie nie in den Medien. Es gebe eine hohe Dunkelziffer, so der Therapeut.

Abgrenzung zwischen Zwangsgedanken und Pädophilie

Ebenfalls schwer zu definieren ist die Grenze zwischen Zwangsgedanken — wie Max sie hat — und pädophilen Neigungen. Ein Kern-Pädophiler, wie Fellner das nennt, suche aber ganz gezielt entsprechende Inhalte. "Das ultimative Ziel ist letztendlich auch eine Partnerschaft oder Sex mit Minderjährigen und Kindern." Bei Zwangsgedanken drehe sich hingegen alles um die Gedanken. "Es passiert im Kopf und im Normalfall gibt es keinen Übergriff", zieht Fellner die Grenze.

Und trotzdem könnten sich theoretisch auch Menschen mit Zwangsgedanken strafbar machen: "Manche Patienten haben so massive Zwangsgedanken, dass sie beim Ausprobieren und sich selbst Testen bereits problematische Inhalte konsumieren", so der Therapeut. Dabei werde natürlich auch die rechtliche Grenze überschritten und sie machen sich strafbar.

Vor seiner Therapie glaubte Max, pädophile Neigungen zu haben. Er fand das selbst unglaublich abstoßend. Hätte er aber jemals einen realen Übergriff auf ein Kind geplant, hätte er sich unverzüglich selbst eingewiesen oder sich wegsperren lassen, betont er immer wieder. Er habe auch nie pornografische Inhalte konsumiert.

Mittlerweile aber weiß Max, dass es keine sexuelle Neigung sein kann: "Eine Neigung funktioniert anders. Wäre ich pädophil, würde ich das nicht ständig reflektieren und hätte keine so große Angst davor. Ich weiß das tief in mir, aber meine Dämonen sagen mir immer wieder etwas Anderes. Ich kann mir nie zu 100 Prozent sicher sein. Und das werde ich auch nie können."

Professionelle Hilfe ist wichtig

Therapeut Fellner rät beim Aufkommen derartiger Gedanken jedem, diese so schnell wie möglich von Expert*innen abklären zu lassen. Ob es nun Zwangsgedanken sind oder man tatsächlich pädophile Neigungen habe – eine Therapie könne in beiden Fällen helfen. Es als Tabu-Thema abzustempeln sei sicherlich der falsche Weg, sagt der Therapeut.

Auf meine letzte Frage, wie es ihm heute gehe, antwortet Max: "Es war unglaublich schwer für mich, dir das alles zu schreiben. Jetzt freue ich mich aber, dass ich es geschafft habe. Ich habe noch immer die Hoffnung auf ein normales Leben, deswegen will ich weiter kämpfen. Ich wünsche mir, dass mich Menschen nicht sofort verurteilen, sondern versuchen, psychische Krankheiten zu verstehen. Oft sagen Menschen zu mir ,Du bist nur traurig, du brauchst keinen Psychologen'. In Wahrheit kann ich auf die Frage, wie es mir geht, schon seit Jahren nicht mehr ehrlich mit ,gut' antworten."