Lena war dreieinhalb Jahre mit ihrem ersten Freund zusammen. Das erste Jahr war aufregend, die beiden waren frisch verliebt und hatten viel Sex. Gemeinsam probierten sie alles mögliche aus, erlebten eine intensive Zeit. Nach circa einem Jahr begann die anfängliche Euphorie jedoch etwas abzuflauen. "Es gab diesen einen Winter, in dem ich dreimal hintereinander eine Pilzinfektion hatte und dadurch alles extrem weh getan hat," erinnert sich Lena. "Trotzdem hatten wir damals Sex. Es war Routine und ich habe mich nicht getraut habe, ihn abzuweisen."

Über Wochen hinweg schliefen die beiden miteinander, ohne dass Lena das wirklich wollte. Ihre Unlust kommunizieren konnte sie damals nicht. "Je öfter man mit einem Menschen schläft, ohne es zu wollen, desto schwächer wird die Lust auf die Person", sagt sie. Und genau das tat die 21-Jährige lange Zeit. Ein langwieriger, schleichender Prozess begann. Die beiden schliefen weiterhin in gleichbleibender Häufigkeit miteinander, auch wenn der Sex Lena immer weniger anzog. Ihre Lust schwand immer mehr.

Nach einer Weile begann Lena, ihrem Freund mitzuteilen, wenn sie keinen Sex wollte. Er reagierte jedoch nicht wie erwartet. Immerhin hatte er die permanente Erfüllung seiner Bedürfnisse in der Beziehung als Selbstverständlichkeit erlernt. Eine glückliche Beziehung könne er nur mit regelmäßigem Sex führen, erklärte er ihr damals. Lena fühlte sich unter Druck gesetzt. Dadurch, dass sie nicht von Beginn an ehrlich ihre Lust und Unlust artikuliert hatte, war eine Kultur in der Beziehung entstanden, in der ihre eigene Bedürfnisse nach und nach an Priorität verloren.

Ich habe mich selbst für langweilig und meinen Sexualtrieb für schlecht gehalten.

"Ich habe ihn sehr geliebt und wollte ihn natürlich unbedingt behalten. Deshalb wollte ich ihm geben, was er braucht, um eine Basis für unsere Beziehung schaffen. Ich habe geglaubt, das sei notwendig dafür", erklärt Lena. Lange Zeit suchte sie die Schuld bei sich. "Ich habe mich selbst für langweilig und meinen Sexualtrieb für schlecht gehalten", erinnert sie sich. "Das war mit der schwierigste Prozess: Mich selbst als Opfer zu erkennen. Ich habe mich immer als offene, selbstbestimmte, feministische Person gesehen und konnte es mir lange nicht eingestehen, das ich dennoch Dinge mache, die ich eigentlich gar nicht möchte."

Mit dieser Geschichte ist sie nicht allein. Laut einer Studie einer Forscher*innengruppe des Schweizer Forschungszentrums LIVES der Universität Lausanne und des Universitätsspitals Zürich hatten 53 Prozent der befragten Frauen, alle 24 bis 26 Jahre alt, schon mal Sex, ohne diesen wirklich gewollt zu haben. Als Erklärung dafür gab die Mehrheit an, die gute Beziehung zu ihrem Partner aufrecht erhalten zu wollen. Im Vergleich dazu hatten nur 23 Prozent der Männer bereits ungewollten Sex.

Da habe ich das erste Mal gemerkt, dass in der vorherigen Beziehung echt was schief gelaufen ist.

Nach der Beziehung dauerte es, bis Lena erkannte, was passiert war. Als besonders prägend beschreibt sie eine Situation mit ihrem nächsten Partner, die anderthalb Jahre nach der Trennung von ihrem ersten Freund stattfand. Die beiden lagen am Morgen im Bett, als er begann, sie anzufassen. "Ich habe mich krass verkrampft, alles hat sich sofort zusammengezogen", erinnert sie sich. Er fragte, was mit ihr sei, doch sie fand keine Worte, verschloss sich innerlich. Es kostete sie größte Überwindung, hervorzubringen, dass sie gerade keinen Sex haben wolle. Seine Reaktion überraschte sie. "Er meinte daraufhin nur 'Okay, ich muss eh zur Arbeit!'", lacht Lena. "Das war so absurd für mich – nicht darüber streiten zu müssen. Da habe ich das erste Mal gemerkt, dass in der vorherigen Beziehung echt was schief gelaufen ist."

Dabei ist Lenas Erfahrung keine Seltenheit. Die Paar- und Sexualtherapeutin Silke Wahnfried spricht in ihrer Praxis mit vielen jungen Menschen, die unter Lustlosigkeit in ihrer Beziehung leiden. Doch die vermeintliche Lustlosigkeit stellt die Therapeutin in Gesprächen stets infrage. "Ich frage dann: Ist es wirklich Lustlosigkeit oder vielleicht einfach keine Lust auf diesen Sex, den Sie mit ihrem*r Partner*in haben?", erklärt sie. "Mit das Wichtigste ist, sich selbst und den*die Partner*in wirklich kennenzulernen. Was genau macht Lust, wie funktioniert mein eigenes Erregungssystem, was erregt mich?"

Nach einem Modell, das von zwei amerikanischen Wissenschaftler*innen in den 60er-Jahren entwickelt wurde, unterliegen wir alle einem bestimmten sexuellen Reaktionszyklus, der sich jedoch individuell und nach Geschlecht unterscheidet. Beispielsweise werden männlich gelesene Personen oft mehr über visuelle Reize stimuliert, während weiblich gelesene Menschen stärker auf körperliche Berührung reagieren. Jeder Körper funktioniert individuell – eine Erkenntnis, die im Sexualkundeunterricht wohl eher selten Platz findet. So scheint gerade jungen Menschen oft nicht bewusst zu sein, dass beide Körper Erregung bedürfen. Und während die einen lernen zu funktionieren, lernen andere, Sex einfordern zu dürfen. Eine Schieflage entsteht.

"Mit zwei Menschen treffen auch zwei Erregungssysteme aufeinander", erklärt Silke Wahnfried weiter. "Beide Parteien müssen sehr genau nachspüren und bereit sein, Neues an sich wahrzunehmen um so zu erkennen, was gut tut und was nicht. Dafür braucht es sexuelle Sicherheit. Und diese muss oft erst erlernt werden. Denn erlernte Glaubenssätze und Kognitionen können sehr stark sein und solche Prozesse behindern."

Wie soll Konsens stattfinden, wenn sich nicht alle Beteiligten im Klaren über ihr eigenes Empfinden sind?

Viele Mädchen lernen noch immer, dass es wichtig sei, zu gefallen und für den*die Partner*in zu funktionieren. Historisch war dies für Frauen schließlich auch lange Zeit überlebenswichtig – eine Denkweise, die sich nicht so einfach nach ein, zwei Generationen aberziehen lässt. Wenn Mädchen heute anfangen, das erste Mal Sex zu haben, übertragen sie diese veraltete Denkweise oft und lernen nicht, den Sex auch für sich selbst zu erleben. So scheint es besonders zwischen jungen Menschen des Öfteren zu Ungleichheiten im Sexleben zu kommen – wie es auch Lena erlebt hat.

Consensual Sex ist auch in Beziehungen ein Thema. Und selbst in liebevollen Beziehungen kann sexuelle Gewalt stattfinden, ob bewusst oder unbewusst. Denn wie soll Konsens stattfinden, wenn sich nicht alle Beteiligten im Klaren über ihr eigenes Empfinden sind? Wir alle sollten ein möglichst feines Gespür für den eigenen Körper entwickeln und uns die Zeit nehmen, genau nachzuspüren, was sich wirklich gut anfühlt. Und uns genauso in Respekt und Geduld üben, die Lust des Anderen entstehen zu lassen – und auch zu akzeptieren, wenn das mal nicht passiert.