Mein Herz zieht sich zusammen, als ich das WhatsApp-Video von meinem Ex-Mitbewohner auf meinem Handy anschaue. Er sitzt an seinem Schreibtisch und blättert langsam durch mindestens acht handschriftlich eng beschriebene Seiten: ein Abschiedsbrief an seinen Ex-Mann. "Ich habe ihm alles, was ich noch zu sagen hatte, in einem Brief geschrieben", steht in der Nachricht über dem Video. Es ist der dritte. Mindestens. Abschicken wird er ihn nicht.

Ich kenne das sehr gut, ich habe mindestens drei E-Mails mit Trennungshintergrund an meinen Ex im Postausgang. Jahre später, ohne den dazugehörigen Gefühlssturm gelesen, klingen sie verletzt und bemüht in dem Versuch, zu verstehen. Außerdem ein bisschen pathetisch, hier und da ein wenig belehrend und sogar tapfer und insgesamt einfach sehr, sehr traurig. Aber warum schreiben wir nach einer Trennung überhaupt einen Abschiedsbrief oder zwölf?

Akzeptanz

Ein Abschiedsbrief an den*die Ex ist in Teilen der Versuch, eine Grenze zu ziehen. Sich tatsächlich zu verabschieden – von einem Plan oder einem Traum, gemeinsam mit diesem anderen Menschen durchs Leben zu gehen – und sich zu lösen von einer Beziehung, die nicht mehr gut tut, sondern weh. Es ist eine Form des Erkennens, Begreifens und Loslassens; der erste Schritt der Akzeptanz im Kopf, während das Herz immer noch verzweifelt weint. Quasi der Versuch, die beiden zu synchronisieren.

Gleichzeitig ist ein Abschiedsbrief aber auch ein Weg, mit der erlebten Verletzung umzugehen und beim Schreiben die eigene Sicht auf die Trennung zu finden und Klarheit über die dazugehörigen Gefühle zu gewinnen. "Die Schriftform zwingt einen, die Dinge zu Ende zu denken und zu präzisieren. Und das tut oft sehr gut", sagt auch die Trennungsexpertin und Autorin Elena Sohn aus Berlin.

Schreiben ist besser als reden – manchmal

Für gewöhnlich gehen einem Abschiedsbrief mehrere, manchmal unzählige, ausführliche Problem- und Trennungsgespräche voraus. Zu dem Zeitpunkt, an dem sich jemand hinsetzt und einen Brief oder eine lange E-Mail schreibt, ist klar, dass sie alle nichts gebracht haben. Die Brief- oder E-Mailform ist für einen klärenden Abschied deshalb besonders geeignet, weil es sich um asynchrone Kommunikation handelt; es geht nicht in erster Linie um den Dialog. Der Abschiedsbrief ist zwar persönlich, aber indirekt und zeitunkritisch.

Schriftlich lässt sich außerdem einfacher das darlegen, was bei direkter Begegnung vielleicht nicht zur Sprache kommen würde. Weil im Vier-Augen-Gespräch durch Aufregung Klarheit fehlt oder vielleicht auch Mut. "Oft schafft man es live aus lauter Nervosität oder Unsicherheit dann doch nicht, die Dinge rüberzubringen, die einem durch den Kopf gehen und denkt danach: 'Mensch, hätte ich doch noch das und das gesagt'", erklärt Elena Sohn. "Das passiert beim Brief nicht so schnell."

Ein neues Narrativ

Letztlich hilft das Schreiben eines Abschiedsbriefs dabei, ein Narrativ zu entwickeln, um sich selbst wieder neu zu verorten. In Ruhe die Gedanken zu sortieren, und dabei gleichzeitig die Gefühle. Wirklich zu begreifen, was passiert ist und warum. Den eigenen Anteil am Scheitern der Liebe zu finden und gleichzeitig zu erkennen, wo der*die andere Fehler gemacht hat.

Und darum, einen Flicken für den Teppich der eigenen Lebensgeschichte zu weben; etwas, das man Jahre später in einer Bar in weniger als einer Minute zusammenfasst und dann lächelnd Prost sagt – auch wenn das in der Zeit der akuten Trennung unvorstellbar scheint.

Abschiedsbrief oder Kontaktwunsch?

Vorsicht ist jedoch geboten vor der beliebten Falle der 3.000 Abschiedsbriefe, die im Kern lediglich als halbverborgener Vorwand dienen, mit dem*der anderen Kontakt aufzunehmen. Das passiert gar nicht so selten, sagt auch Elena Sohn: "Meiner Erfahrung nach geht es oft darum, den Kontakt aufrecht zu erhalten, auf eine Antwort zu hoffen, Wut loszuwerden, oder doch noch Argumente vorzubringen, den anderen umzustimmen." Das ist wenig sinnstiftend, weil so ein Abschiedsbrief mit verdeckten Erwartungen verknüpft ist, die sehr wahrscheinlich nicht erkannt und/oder ignoriert und nicht erfüllt werden. Folge: Enttäuschung, Wut und anhaltende Verletzung.

Wer mit dem Gedanken spielt, den Brief oder die E-Mail nicht nur für sich selbst zu schreiben, sondern tatsächlich abzuschicken, sollte außerdem auf Vorwürfe verzichten, sagt Elena Sohn. "In so einem Brief ist es gut, mehr von sich selbst und seinen Gefühlen zu reden – sich zu erklären also – als den anderen anzugreifen."

Lass es raus!

Was das Schreiben bringen kann, fasst die Trennungsexpertin so zusammen: "Die Möglichkeit, wirklich abzuschließen, wenn man weiß: Jetzt habe ich wirklich alles gesagt und es ist nichts mehr offen geblieben."

Also lass es raus. Schreib dir alles von der Seele. Jede Verletzung, jedes Gefühl. Jede Wunde, die dein Herz spürt. Bring alles zu Papier. Nimm dir Zeit dafür. Ob du den Abschiedsbrief abschickst oder nicht, kannst du ganz in Ruhe überlegen, manchmal liegen Jahre zwischen Trennung und Brief und auch das ist okay. Denn im Grunde geht es vor allem um dich und deine Gefühle. Und darum, dem Herz schonend beizubringen, was der Kopf schon versteht.

Außerdem auf ze.tt: Dieser Instagram-Account zeigt dir, wie schön und schmerzhaft Liebe sein kann