Zugegeben: Das Bild ist auf den ersten Blick eher beunruhigend als schön. Aber Ästhetik ist eigentlich auch keine Kategorie, die wir an die Beschreibung der Anatomie von Körpern anwenden sollten. Knochen sind Knochen, Muskelsysteme sind Muskelsysteme, Drüsen sind Drüsen – und so dürfen sie auch dargestellt werden. Oder?

"Mir wurde klar, dass ich noch nie ein Foto eines weiblichen Muskelsystems gesehen habe. SO habe ich mir Milchdrüsen nicht vorgestellt!", twitterte ein*e User*in mit dem passenden Bild dazu, das das Mysterium enthüllt: die wohlbekannte Abbildung einer roh-rötlichen Brustmuskulatur mit weißen Fettflächen. Dann sind da aber zwei scheinbar sonderbare Gebilde auf den Spitzen der beiden Brüste, die aussehen wie runde Zelte, deren Wände bohnenförmige Strukturen mit fadenförmigen Schwänzen sind, die gemeinsam ein spitzes Dach formen: Milchdrüsen.

Schön oder traumatisch?

Warum ist uns dieses Bild noch nie untergekommen? In keinem Schulbuch und nicht einmal auf Postern an der Wand im Warteraum einer Gynäkologie-Praxis? Das ist wirklich beunruhigend. Tatsächlich sind Milchdrüsen keine Muskeln, kommen dementsprechend auch nicht als solche zwangsläufig in Abbildungen von Muskelsystemen vor. Dennoch: Die Verwunderung – darüber, dass vielen klar wurde, dass das einzige Bild, das relevant genug war, als Normkörper im Biologieunterricht besprochen zu werden, eines ohne Milchdrüsen war, während manch andere wohl auch von dem Anblick an sich erschrocken waren – fühlen offenbar Zehntausende Menschen, die den Tweet seitdem teilten und kommentierten.

Was aber auch hinter dem Schreck stecken könnte: die Entzauberung der weiblichen Brust, die in unserer Kulturgeschiche oftmals als erotisch und einladend weich erzählt wurde, aber eben auch nur ein komplexes anatomisches System ist. Es gibt jedoch auch User*innen, die darin Schönheit entdecken:

Brüste ohne Milchdrüsen, Vulven ohne Öffnungen

Das Unsichtbarmachen der anatomischen Eigenschaften von Körpern, die allgemein als weiblich definiert werden – "definiert" statt "sind", weil auch trans* Männer oder nicht-binäre Menschen durchaus Brustdrüsen, Vulven und Vaginen haben – ist übrigens nicht zuletzt seit dem Comic Der Ursprung der Welt der schwedischen Zeichnerin Liv Strömquist ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt.

Darin erzählt sie unter anderem diese Geschichte: Als die US-Raumfahrtbehörde NASA 1972 ihre erste Sonde ins All schoss, hatte sie Bilder von Menschen an Bord: zwei rudimentäre Abbildungen in Schulbuchoptik von einem vermeintlich weiblichen Körper und einem männlichen. Während bei der letzteren ganz selbstverständlich ein Penis zu sehen war, sah sich NASA-Wissenschaftler John E. Naugle gezwungen, bei der anderen Skizze zu intervenieren: Denn die als Frau gezeichnete Person hatte einen kleinen Schlitz zwischen den Beinen! Eine Art Vulva! Vulvalippen!

Naugle ließ den kleinen Strich entfernen. Und werden unsere außerirdischen Nachbar*innen jemals diese an sie gerichtete galaktische Flaschenpost entdecken, werden sie uns als eine Population mit zwei Arten von Menschen kennenlernen: eine mit Penis und eine mit einem glatten, dreieckigen Unterleib wie bei einer Barbie oder einer Schaufensterpuppe. Der außerirdische Schock beim Anblick von realen Vulven dürfte vorprogrammiert sein. Und ebenso bei Brüsten mit Milchdrüsen.