"Wie alt schätzt du mich eigentlich?", – die Frage von meiner neuen Urlaubsbekanntschaft kam unvermittelt. Bei einem Glas Wein und Gesprächen über Gott und die Welt saßen wir auf einer spanischen Finca zusammen. In einer Art Blase, weil an diesem Ort kein anonymes Nebeneinander gepflegt wurde – man kam dort schnell mit den anderen Gästen in Kontakt. Mit dabei in der nächtlichen Runde waren zwei weitere Freund*innen und eine Frau, die wir alle gerade neu kennengelernt hatten.

Ich überlegte, was ich ihm antworten sollte und tippte auf Mitte, Ende 30. Die richtige Antwort war 50. Wir schauten uns kurz in Augen und spürten beide, dass uns das eigentlich völlig egal war. Uns fünf trennten zum Teil vielleicht 17 bis 20 Jahre. Doch in den nächsten Tagen wuchsen wir zu einer fast unzertrennlichen Gruppe zusammen. Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichten, zeigten uns Fotos, machten Ausflüge und verstrickten uns in endlosen Diskussionen. Manchmal lachten wir so laut, dass sich die anderen Gäste amüsiert zu uns umdrehten. Und einmal wurden wir zu später Stunde von unserem bevorzugten Terrassenplatz vertrieben, weil wir die Nachtruhe störten.

Freundschaften mit größerem Altersunterschied sind eher selten

Zurück in der Heimat hielten wir Kontakt, trafen uns zum Teil wieder, blieben Freund*innen. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass diese Konstellation durch unsere Altersunterschiede vielleicht ein wenig außergewöhnlich war. Wolfgang Krüger ist Psychotherapeut und hat sich in seinem Buch Freundschaft: Beginnen, verbessern, gestalten intensiv mit dem Thema beschäftigt. Er erklärt, dass Freundschaften mit einem größeren Altersunterschied eher selten sind: "Wenn Sie in der Schule sind oder studieren, dann sind 90 Prozent der Kontakte, die Sie haben, einfach Ihre Generation. Ganz automatisch." Später suche man sich dann meist Menschen mit ähnlichen Lebensweisen und Problemen. "Wenn Sie Anfang 30 sind und ein Kind haben, wollen Sie sich einfach darüber unterhalten, was die beste Babynahrung ist und wie man das Kind nachts zur Ruhe bekommt", sagt Krüger. "Insofern ist es klar, dass wir im Laufe des Lebens im Wesentlichen halbwegs gleichaltrige Freund*innen haben." Doch es gebe Ausnahmen.

Wenn jemand Freundschaften mit älteren oder jüngeren Menschen schließt, kann das bestimmte Gründe haben. Zum Beispiel biografische Faktoren, die inneren Drehbücher, wie sie der Psychologe nennt. Wer etwa früh seinen Vater verloren hat, sucht möglicherweise nach älteren Frauen und Männern, die ihn*sie fördern und ihre Erfahrungen weitergeben. Wer schon älter ist und erwachsene Kinder hat, verfügt dafür vielleicht über freie Kapazitäten, um Kontakte zu Jüngeren aufzubauen. Die Dynamik solcher Beziehungen ist eine ganz eigene. Manchmal übernehmen die älteren Personen die Funktion von Lehrer*innen, Berater*innen und Coach*innen, die jüngeren begeben sich in in die Rolle von bewundernden Schüler*innen. "Das geht im Grunde ganz gut, ist aber mit Tücken behaftet", sagt Krüger. Denn normalerwiese sei eine Freundschaft eine Beziehung ohne Machtgefälle. Dass ältere Freund*innen möglicherweise schon ruhiger sind, über mehr Geld verfügen und etwas Unterstützendes an sich haben, könne von Vorteil und sehr positiv sein – aber gelegentlich auch problematisch.

Das Leben stellt uns in bestimmten Altersphasen einfach vor andere Herausforderungen
Wolfgang Krüger

Besonders schwierig wird es dann, wenn die Rollen sich ändern. Wenn der jüngere Part sich emanzipiert und der ältere beispielsweise krank wird. "Dann ist immer die Frage: Halten solche Beziehungen das aus?", so der Experte. Im Prinzip seien die Probleme die gleichen wie in Partnerschaften mit großem Altersgefälle, nur in abgemilderter Form. Normalerweise sind wir daran interessiert, Freundschaften mit der Perspektive zu beginnen, dass sie lange halten. Krüger zeichnet jedoch ein Bild, vor dem ich bislang die Augen verschlossen habe: "Nehmen wir an, einer ist 30 und einer 50. Was passiert, wenn der*die 50-Jährige in Rente geht, plötzlich ganz andere Ziele hat? Nicht mehr arbeiten, sondern das Leben genießen will? Dann werden Sie merken, dass es doch einen großen Unterschied in der Lebensweise gibt. Rente, Geld, gesundheitliche Beschwerden, die nicht mehr weggehen – irgendwann beschäftigen Sie sich mit solchen Themen. Das Leben stellt uns in bestimmten Altersphasen einfach vor andere Herausforderungen." Meine Urlaubsfreund*innen und ich befänden uns momentan in einer Phase der Partnerschaft, wo ein Altersabstand von 20 Jahren noch keine Auswirkungen habe. Denn wir alle sind noch gleichermaßen gesund und neugierig und haben den Drang, uns weiterzuentwickeln.

Ältere Menschen lassen sich von der Jugendlichkeit anstecken

Und dabei habe ich großes Glück: Der Psychologe erklärt, dass es Lebensphasen gibt, in denen die Offenheit für generationsübergreifende Kontakte besonders gering ist. In die erste Gruppe falle ich noch nicht ganz, denn es sind Menschen zwischen Anfang 30 und Mitte 40, die sich ganz auf Kinder, Heirat oder Karriere konzentrieren, darauf aus sind, Menschen in der gleichen Situation kennenzulernen und schon Probleme haben, ihre bestehenden Freundschaften zu pflegen. Die zweite Gruppe betrifft die Mittvierziger*innen bis 50-Jährigen, die beginnen, Bilanz zu ziehen. "Man hat Lebensroutine, aber man ist vom Leben ein bisschen platt gemacht", sagt Krüger. "Etwa die Hälfte der Menschen fängt in dieser Phase an, zu resignieren. Das heißt, sie haben zwar noch Freundschaften, aber keine Aufbruchstimmung, wo sie wieder neue Verbindungen aufbauen." Sie verlangsam, ziehen sich aus dem Leben zurück und fangen vorzeitig an zu altern. Meine Freund*innen dagegen gehören eindeutig zu den anderen 50 Prozent, die abenteuerlustig bleiben.

In einem solchen Fall können beide Seiten von der Freundschaft profitieren. Der Psychologe erklärt, dass ältere Menschen sich von der Jugendlichkeit, die jüngere Menschen voller Tatendrang ausstrahlen, anstecken lassen: "Je älter Sie werden, desto abgeklärter sind Sie, aber das Leben wird auch langweiliger. Insofern ist natürlich jede Beziehung, in der jemand wesentlich jünger ist, ein Jungbrunnen." Die Lebensweise, viele Dinge intensiver zu erleben, sei für jemanden, der etwas älter ist, "unendlich attraktiv." Wer seine 20er hinter sich hat, sei dafür gelassener, renne nicht mehr in jedes Schlagloch des Lebens und empfinde jede gescheiterte Beziehung als Existenzbedrohung. "Ein Austausch zwischen Älteren und Jüngeren kann für beide eine ausgesprochene Win-Win-Situation sein", sagt Krüger.

Nicht jedes Mal muss eine Herzensfreundschaft entstehen

Bei Großfamilien auf dem Land waren generationsübergreifende Kontakte früher eine Selbstverständlichkeit. Heute gibt es, abgesehen von Mehrgenerationenhäusern, wenig potenzielle Orte der Begegnung. Dabei wären solche Beziehungen laut dem Experten für die Lebensqualität ausgesprochen wichtig, sinnvoll und wertvoll. Alle würden dabei gewinnen. "Wir müssen viel innovativer mit dem Thema Alter umgehen", sagt Krüger. Es brauche Projekte, um Begegnungen zwischen Älteren und Jüngeren zu fördern – zum Beispiel in der Arbeit mit Geflüchteten oder durch Künstlerinitiativen. Wenn man sich gemeinsam für eine Sache engagiert und an konkreteten Dingen mitwirkt, spielt das Alter in diesem Rahmen so gut wie keine Rolle. Und es muss schließlich nicht jedes Mal gleich eine Herzensfreundschaft entstehen. Auch wenn wir uns mit Menschen aus einer anderen Generation vernetzen, erweitern wir unseren Horizont.

Bei unserer Urlaubsclique war es wohl eine extrem glückliche Fügung. Der Kontext, in dem wir uns kennengelernt haben, war geradezu perfekt. Wir konnten gemeinsame Erlebnisse teilen, uns auf Augenhöhe austauschen. Und dennoch voneinander lernen und uns inspirieren. Ob es für die Ewigkeit ist, weiß ich nicht, aber vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Zumindest im Augenblick kann ich sagen: Ich habe einen Freund, der damals auf der Berliner Mauer stand, als sie fiel. Eine Freundin, die eine dreijährige Weltreise unternommen hatte, als sie in meinem Alter war, und danach etwas völlig Neues im Leben wagte. Über die man zu mir sagte: "Sie ist genau wie du, nur ein paar Jahre älter." Und keiner Bemerkung von Krüger würde ich mehr zustimmen als dieser: "Eigentlich kommt es auf das seelische Alter an."