Der mysteriöse Mister White stürmt durch die Tür. Seine strahlend hellen Augen taxieren die Zuschauer*innen in der ersten Reihe. Dann beginnt die Bühnenfigur mit tiefer, kraftvoller Stimme zu sprechen. In Wirklichkeit ist es der Mensch Michael, der spricht. Und der hatte eigentlich nie geplant, Schauspieler zu werden. "Dann gab es einen Moment, da habe ich einfach gespürt: Es ist scheiße, sich zu belügen", erzählt er.

Seine Erkenntnis kam spät. Michael hat in Freiburg Englisch, Spanisch und Sport auf Gymnasiallehramt studiert. Das Erstbeste, was ihm einfiel und was er gut konnte. Er zog sein Referendariat durch und arbeitete ein Jahr lang als Lehrer an einer Berufsschule. Dafür hatte er alle möglichen Bedingungen an die Schule gestellt: Er wollte unbedingt Spanisch unterrichten, Teilzeit arbeiten, eine Theater-AG leiten. Die Schulleitung ließ ihn gewähren. Aber irgendwann war ihm klar, dass er die vielen Konditionen nur gestellt hatte, weil er den Job gar nicht unbedingt machen wollte. "Die Abstände, in denen ich mich gefragt habe, ob ich einen Fehler mache, wurden immer kürzer", sagt Michael.

Ich bin doch Anfang 30, der Zug ist abgefahren

Er hatte das Gefühl, sich einzulullen. Sich mit etwas zufrieden zu geben, das nur okay war. Und damit ist er nicht allein. Jürgen Hesse ist Psychologe, Autor und leitet mit seinem Kollegen Hans Christian Schrader ein Beratungsunternehmen für Bewerbung und Karriere. Er glaubt, dass sich mindestens ein Viertel, wenn nicht gar ein Drittel der Menschen in einem bequemen beruflichen Kompromiss eingerichtet hat. "Wir haben alle eine Fantasie, was wir noch machen könnten, aber die meisten Leute brüten dieses Ei gar nicht richtig aus", erklärt Hesse. Man könne nicht jedem*r Zweifelnden direkt raten, zu kündigen und sich in ein Abenteuer zu stürzen. Aber der Experte meint: "Es ist wichtig, dass man verschiedene Pläne und Visionen hat. Man wird nicht alle umsetzen können, aber sollte mutig etwas versuchen. Wenn Sie sich noch nicht trauen, ist der Wunsch vielleicht noch nicht ganz reif genug."

Ich bin wach geworden und habe gedacht, es geht so nicht weiter.
Michael

Bei Michael musste erst mal das Bewusstsein reifen, dass es überhaupt Alternativen gibt. Nach verschiedenen studentischen Theaterprojekten wurde er immer wieder gefragt, ob er sich nicht mal überlegt hätte, die Schauspielerei professionell anzugehen. Sein Gedanke: Ich bin doch Anfang 30, der Zug ist abgefahren. Trotzdem ließ ihn die Idee eines Abends nicht mehr schlafen. "Ich bin wach geworden und habe gedacht, es geht so nicht weiter", erzählt Michael. Er stand auf, googelte die Aufnahmekriterien von Schauspielschulen. Fand Ausnahmeregelungen, trotz seines Alters. "Noch in derselben Nacht habe ich zwei Freunde angerufen und ihnen erzählt, dass ich das jetzt machen muss."

Laut Jürgen Hesse hat Michael damit alles richtig gemacht. Denn das wichtigste, um den Mut für einen radikalen Richtungswechsel zu finden, sei, mit vielen Leuten zu sprechen und sich Unterstützer*innen zu suchen. "Wenn man als Kind früher in den dunklen, muffigen Keller geschickt worden ist, dann hat man gesungen oder gepfiffen", sagt Hesse. Mit anderen zu reden hätte den gleichen Effekt. Und es helfe dabei, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Zum Beispiel vonseiten der Familie, die sagt: Lern was Ordentliches. Natürlich machst du Abitur und studierst danach. Die Frage ist nur, was.

Michaels Familie legte ihm zwar keine Steine in den Weg, aber sein bisheriger Werdegang schien einfach der naheliegendste zu sein: Eltern, Onkel, Nachbar*innen, alle in seinem Umfeld waren Lehrer*innen. "Damals hätte ich das nicht als Druck bezeichnet. Es war eher ein fehlendes Bewusstsein für die Möglichkeiten, die man im Leben hat", sagt er. Die Frage "Was will ich eigentlich wirklich?" hätte sich ihm nie gestellt. Dafür habe er von zu Hause die Angst vor der freien Marktwirtschaft mitbekommen. Ein Sicherheitsbedürfnis und die Sorge, ohne soliden Job vielleicht nicht unterzukommen. Dass er mit 32 noch einmal eine Schauspielausbildung anfangen würde, hätte er nicht gedacht.

Debbies Lebenslauf folgte einem Zick-Zack-Kurs

"Hinterher haben mir ganz viele Leute gesagt: ,Das war ja voll die mutige Entscheidung!'", erzählt Michael. Er selbst habe das aber gar nicht so empfunden, sondern gedacht: Es ist alternativlos. Und sein Umfeld, das überwiegend aus jüngeren Studierenden, Musiker*innen, Schauspieler*innen und Künstler*innen bestand, bestärkte ihn. Dort lebten alle das Credo, dass man nicht mit 25 einen Beruf ergreift und mit 67 in Rente geht. "Viele haben irgendeinen Job-Job gemacht und nebenbei versucht, mit ihrer Kunst ein bisschen Geld zu verdienen. Das waren eher so Flickenteppich-Lebensläufe", sagt Michael. Sein eigener: ein zweifarbiges Modell.

Im Gegensatz dazu ist Debbies Lebenslauf eher das Werk eines*r Designer*in, der*die zu viel LSD genommen hat: ein buntes Stück aus verschiedenen Materialien. Bei der zierlichen 30-Jährigen, die heute ebenfalls Teil der Freiburger Kulturschaffenden-Blase ist, nahm der Berufsweg keine einmalige, plötzliche Wendung. Stattdessen folgte er einem herausfordernden Zick-Zack-Kurs: Mittelmäßiger Realschulabschluss, FSJ, mit 18 eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. "Das war so ziemlich der einzige Job, den ich damals bekommen habe", erzählt Debbie. Dann der Plan, internationales Handelsmanagement zu studieren. "Weil ich dachte: Damit kann ich Geld verdienen und werde reich und erfolgreich", sagt sie und lacht. Für dieses Ziel arbeitete sie nach der Lehre Vollzeit und holte nebenbei die Fachhochschulreife nach. Währenddessen wurde sie schwanger, mit 22. Ab diesem Moment hatte finanzielle Sicherheit Priorität. Sie entschied sich um, wollte Öffentliche Verwaltung studieren, weil der Studiengang bezahlt war.

Beim Einführungspraktikum in einer Gemeinde stellte sie allerdings fest: Das werde ich niemals die nächsten 40 Jahre machen. "Es hat mich gelangweilt. Ich dachte, ich muss meine Zeit, meine Energie und meine Ambitionen in irgendwas reinstecken, das mir mehr Freude bereitet und mich nicht lethargisch werden lässt", erklärt Debbie. Sie brach das Praktium ab, trat das Studium gar nicht erst an. Doch irgendwo musste Geld her; der Vater ihres inzwischen geborenen Sohnes war zu dem Zeitpunkt arbeitslos. Vier Jahre lang arbeitete sie als Assistenz der Geschäftsführung in einer IT-Firma, um die Familie zu ernähren. Und fing parallel dazu auch noch eine nebenberufliche Gesangsausbildung an. "Während dieser Zeit habe ich immer mehr gemerkt: Ich muss dringend etwas tun, was mich glücklich macht", erzählt sie.

Sie war mit 28 Ersti – und überglücklich

Und dafür wollte sie kämpfen. Ihr Traum: an die Uni zu gehen. Dort wollte sie studieren, worauf sie wirklich Lust hatte: Germanistik und Kognitionswissenschaften. Doch ihre Fachhochschulreife reichte dafür nicht aus. Erst 2015 gab es mit einem neuen Landeshochschulgesetz die Möglichkeit, eine Aufnahmeprüfung zu machen. Debbie bestand den Test, war mit 28 Jahren Ersti – und überglücklich. Doch nicht alle reagierten so begeistert auf ihren neuen Karriereweg wie sie. "Als ich meinem Chef in der IT-Firma damals gesagt habe: ,Also, ich bin dann raus und geh jetzt studieren. Ab Sommer bin ich weg', hat er nur mit den Augen gerollt und gemeint: ,Oh nee, da verdienst du doch nichts'", erzählt sie. "Aber der Geldaspekt hat mich, was meine berufliche Laufbahn angeht, schon so viel Zeit gekostet."

Natürlich schwingt der finanzielle Faktor trotzdem immer mit. Vom Vater ihres Kindes ist Debbie inzwischen getrennt. Als Alleinerziehende mit Studierendenstatus und wenig Einkommen hat sie es doppelt schwer. "Ich hatte glücklicherweise Bafög-Anspruch. Der hat mich gerettet", sagt sie. 2019 will sie ihren Bachelor machen, danach den Master und vielleicht einen Doktor. Dann entweder an der Uni bleiben, mit einer Kombination aus Forschung und Lehre. Oder verstärkt in der Freiburger Kulturszene mitwirken, wie sie es schon neben dem Studium macht: als Singer-Songwriterin, mit Sprechtheater und organisatorisch bei einer Künstler*inneninititative. "Mir wird oft gesagt, dass ich ein Hippie im Herzen bin. Manche belächeln mich, weil ich überzeugt davon bin, dass Kunst die Welt verändern kann und mehr bewirkt als ein Bürojob. Sie hat einen Mehrwert für mich und andere", sagt Debbie. Dabei klingt sie kein bisschen blauäugig, sondern lebenserfahren und klug. Und voller Überzeugung, wenn sie sagt: "Die kaufmännische Laufbahn hinter mir zu lassen, war eine der besten Entscheidungen, die ich jemals getroffen habe."

Wie geht man mit Brüchen im Lebenslauf um?

Wer in seinem Berufsleben Haken schlägt wie ein Hase, muss die Sprünge vor allem vor sich selbst und vor anderen erklären können, sagt der Karriereexperte Jürgen Hesse. Und mehr noch: Man sollte dafür werben, andere dafür begeistern und Verständnis wecken. Dann wirke man auch vor den meisten Personaler*innen mutig und interessant. "Flickenteppich-Lebensläufe sind nicht schlimm. Es liegt an Ihnen und Ihrer Geschicklichkeit, wie Sie das überzeugend darstellen. Auf dem Papier und in persönlichen Gesprächen", sagt Jürgen Hesse. "Wenn Sie klug sind, mit Menschen können und eine gewisse positive Ausstrahlung haben, dann ist gar nicht so entscheidend, was Sie studiert oder mal gelernt haben. Es geht darum: Was traue ich jemandem zu? Das hat etwas mit Sympathie, Vertrauen und Zutrauen zu tun. Intelligente Menschen sind in der Lage, Richtungen zu wechseln und können auch in anderen Bereichen etwas leisten."

Was voll geil ist, ist, diesen Kontrollverlust auszuhalten.
Michael

Wenn man Träume hat und diese Träume klug umsetzen will, kann man sich dafür professionelle Unterstützung holen, zum Beispiel bei Beratungsstellen oder mit diversen Ratgebern in Buchform. Michael hat seine Ziele ohne Hilfe erreicht: Inzwischen hat er genug Arbeit als freier Schauspieler und moderiert nebenbei ein Quiz. Seit 2016 leitet er erfolgreich das Theater Spielzimmer, eine Gruppe, die man für private Aufführungen im eigenen Wohnzimmer buchen kann. Sowohl Michael als auch Debbie haben die Erfahrung gemacht, dass es sich mittel- und langfristig auszahlt, etwas zu machen, was kurzfristig etwas schmerzhaft wirkt. "Was voll geil ist, ist, diesen Kontrollverlust auszuhalten", sagt Michael. "Vor allem, wenn man so einen Moment hat, wo man denkt: Oh nein, das geht eigentlich nicht. Aber trotzdem einen Wunsch verspürt, der so echt ist, dass man ihm folgt. Und dann merkt, dass es total bereichernd ist." Der Karriereberater stimmt zu: Es sei entscheidend, der Sache nachzugehen, wenn man so mit einer Idee schwanger gehe, dass sie einen nachts in den Träumen verfolgt.

Lebensqualität lässt sich nicht mit Geld aufwiegen

Zum Glück ist es heute keine Seltenheit mehr, sich beruflich immer wieder umzuorientieren. Und es kann sich lohnen, nicht immer nur voranzupreschen, ohne Luft zu holen, zu reflektieren und sich selbst zu hinterfragen. Michael beschreibt es so, dass er lange Zeit dazu geneigt hatte, Gefühle und Ansichten zu konservieren, die er irgendwann mal gehabt hatte. Bis sie zu leeren Hülsen wurden wie "Lehrer ist eine tolle Kombination: ein sozialer und sicherer Beruf." Er sagt, er habe erst lernen müssen, zu erspüren, wann diese Floskeln gar nicht mehr das spiegelten, was er sich wirklich vom Leben wünschte. Debbies wichtigste Lektion war: Lebensqualität und Zufriedenheit lassen sich nicht mit Geld aufwiegen: "Es macht einen viel unglücklicher, einen Scheißjob zu haben, als wenig Geld zu haben." Heute möchte sie ihrem Sohn vermitteln, positiv und optimistisch zu sein. Und ihm vorleben, dass er in seinem Leben machen kann, was er selbst für sinnvoll hält.