Jedes Jahr aufs Neue zähle ich die Monate, Wochen und Tage, bis es endlich soweit ist und mein Mann und ich uns für zwei Wochen auf die schwulste Insel Europas verkrümeln können: Gran Canaria. Dieses Jahr ist alles ganz schlimm. Unser Hinflug wäre genau am ersten Tag des Beginns der Corona-Ausgangs- und Kontaktbegrenzungen gewesen, der Reiseveranstalter hat natürlich alles gecancelt (gut so, nicht auszudenken, wie es gewesen wäre, zwei Wochen ausschließlich in einem Hotelzimmer zu verbringen … Horror).

Ich habe mich mittlerweile mit meinem schweren Schicksal abgefunden, ich bin ja ein Transvestit von Format. Und zum Glück verfüge ich nach so vielen Jahren Gran-Canaria-Urlaub über mannigfaltig abrufbare Urlaubserinnerungen. In die ziehe ich mich dieser Tage immer wieder zurück – euch nehme ich jetzt mit zum queeren Reiseziel Nummer eins und erkläre, warum der Urlaub dort so wichtig ist.

Wer noch nie auf Gran Canaria war, hier ein paar Facts: Gran Canaria ist die die drittgrößte Insel der Kanaren und gehört zur Autonomen Gemeinschaft Spaniens. Christoph Kolumbus soll wohl ein paar Mal zum Wasserholen angehalten haben – erst mal ist also nicht viel auf der Insel passiert und die Canarios konnten ihr eigenes Ding machen. Im 15. Jahrhundert hielt Europa plötzlich Versklavung und Missionierung für eine gute Idee und wütete auf der Insel – es blieben circa 15 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung übrig. Das alte traurige Lied vom Imperialismus.

Heute besuchen jährlich 2,8 Millionen Menschen Gran Canaria. Aufgrund der warmen Temperaturen heißt sie auch die "Insel des ewigen Frühlings". Ist das nicht poetisch? Wenn es dann mal regnet, dann sogar in den Gebäuden: Man ist auf Wasser vom Himmel nicht allzu gut vorbereitet und die Dächer lecken.

Und: Da 14 Prozent der Urlauber*innen der LGBTI-Community angehören, ist Gran Canaria vor Ibiza, Sitges oder Mykonos das queere Reiseziel Nummer eins.

Schwulendiscos und Gaybars im kühlen Keller

Alle Urlaubsorte befinden sich im Süden der Insel, die meisten Schwulen tummeln sich in Playa del Inglès. Dort sind die fetten Jahre schon länger vorbei. Der Tourismus ist größtenteils ein vor sich hin bröckelnder 1970er-Hotelbunkertraum aus Beton.

Wichtig in Playa sind die Einkaufspassagen. Das sind aber keine Malls wie bei uns, sondern eher in den Boden eingelassene Open-Air-Shopping-Gruben. Ja, dort baut man lieber tief als hoch, viele Hotels und Ladenzeilen befinden sich im ersten oder zweiten Untergeschoss, man fräst sich also über Treppen hinunter in eine bunte Unterhaltungswelt. Das mag dir vielleicht erstmal suspekt erscheinen, allerdings ergibt das ganze einen Sinn. Wegen der durchgehend hohen Temperaturen – schließlich liegt Gran Canaria fast am Äquator – lässt es sich ein paar Meter tiefer einfach besser aushalten, und da diese Areale trotzdem unter freiem Himmel liegen, stört keinen das Keller-Feeling. Viele Restaurants und Bars laden zum Verweilen ein.

Ein Center-Paradebeispiel ist das allseits bekannte Yumbo-Center. Ein riesiges Unterhaltungsareal, das Tag und Nacht bespielt wird. Als schwuler Mann findest du dort eine Gaybar, einen Gayfriseur, einen Gayunterwäscheladen neben dem nächsten, schlimme Dragshows gibt es auch und ab 23 Uhr öffnen dann die Schwulendiscos.

Das Ganze hat was von Gay-Circuit auf dem Lande, hier trägt der geneigte Schwule seine mühsam erreichte Körperbräune gockelhaft zur Schau. Hier trifft Berlin auf Cottbus, der gemeine Hipster auf Solarium-Neon-Spandex-Kombinationen. Brauch ich nicht wirklich, aber jedem Tierchen sein Plaisierchen.

In den Fickdünen von Maspalomas

Der südlichste Zipfel der Insel ist ein kilometerlanger Sandstrand, der ist so weitläufig, dass ein Sardinenbüchsengefühl nicht aufkommt. Natürlich gibt es auch einen Homo-Bereich, an dem sich die Tunten tummeln. Mit oder ohne Badebekleidung, das ist hier egal. Man ist Mensch und guckt auch gern Leute. Vom Jungschwulen, der voll im Saft stehend jeden Tag rumbumsen will bis zum Ü70-Rentner mit Lebenspartner ist alles dabei.

Letztendlich treffen sich alle in den Dünen von Maspalomas, dort wird den körperlichen Freuden gefröhnt, die Fickdünen sind ja hinlänglich bekannt. Der größte Tageslicht-Darkroom der Welt. Eine schwule Bierbude inklusive Regenbogenflagge versorgt die Tunten mit Kaltgetränken. Ich persönlich brauche eigentlich nicht mehr.

Was das Tolle an dem Urlaub ist

Nicht begeistert? Vielleicht können die heterosexuellen Leser*innen die Faszination für den Granne-Urlaub so besser verstehen: Als queerer Mensch wirst du in eine heterosexuelle Welt geboren. Du entdeckst irgendwann, dass du anders bist … aber niemanden interessiert's. Nach dem Coming-out suchst du dir deine kleinen schwulen Freiräume – je nachdem, wo du wohnst, gibt es die mehr oder weniger. Alles um dich herum ist immer heterosexuell, du als Homo findest im Alltag nicht statt. Liebesgeschichten im Film: heterosexuell. Werbung, Role Models: heterosexuell. Familie, Freund*innen, Kolleg*innen: heterosexuell.

Für mich ist es eine unheimliche Wohltat, einfach mal zwei Wochen unter Gleichgesinnten zu sein. Sich nicht darüber Gedanken zu machen, ob jetzt jemand guckt, wenn man sich küsst oder aneinander anschmiegt. Das entspannt das Gemüt. Und ja, tatsächlich ist es immer noch so, dass Leute gucken. Homosexualität ist noch längst nicht so normal, wie uns das die bunten Unterhaltungstunten aus dem Fernsehen erzählen. Leider.

Wenn ich mir Urlaub nehmen kann, dann verbringe ich diesen nur mit Nichtstun, Baden, im Sand liegen und Seele baumeln lassen. Berlin nagt ständig an meiner Konsistenz, das Showbusiness ist hart. Auf Gran Canaria kümmern sich Renate und Helmut aus Hinterfotzingen einen feuchten Kehricht um knutschende Schwule und Cockringe.

Irgendwie ist Gran Canaria aus dem Zeitkontinuum gerutscht. Optisch Jahrzehnte zurück, aber gesellschaftlich Jahrzehnte in der Zukunft. Ich vermisse es. Aber 2021 kommt bestimmt.

Außerdem auf ze.tt: Ein Künstler mischt Reisefotos mit Illustrationen und das Ergebnis ist ziemlich witzig