Frauen urteilen mitunter hart über andere Frauen. Zehn Frauen zwischen 22 und 35 Jahren haben uns intime Gedanken geschildert, die ihnen bei der Beobachtung anderer Frauen kamen. Eine Expertin erklärt, warum sie sich dafür nicht schämen müssen.

Die 24-jährige Dilan* erzählt von einer Begegnung in der Berliner U-Bahn: "Mein Blick fiel auf die junge Frau, die mir gegenübersaß. Ich fand ihre Augenbrauen zu dünn und den Abstand zwischen ihnen viel zu groß", sagt sie. "Meine Güte, was hat sie denn da angestellt?", fragte sie sich. Zu ze.tt sagt sie, dass sie andauernd und so unauffällig wie möglich andere Frauen beobachte und beurteile.

Dieses Verhalten ist unter Frauen nicht selten. Dennoch liegt der Fokus der Feminismusforschung bis heute darauf, wie Männer Frauen beobachten. Sarah Riley, Dozentin der Psychologie an der Aberystwyth University in Wales, erklärt in einer Studie aus dem Jahr 2017, dass das Betrachten anderer Frauen eine wichtige Rolle für das weibliche Selbstverständnis spiele. Der Blick von Frauen auf andere Frauen ist nicht zufällig und hat viele individuelle Beweggründe. "Zusammengefasst denke ich, dass Frauen beigebracht bekommen, den male gaze zu verinnerlichen. Wir lernen Frauen als Objekte anzusehen, dabei sind wir selbst auch Frauen", sagt Riley zu ze.tt.

ze.tt hat mit zehn weiteren Frauen darüber gesprochen, wie sie andere Frauen ansehen und wahrnehmen. Die Erzählerinnen verstehen sich selbst als Feministinnen, doch ihre Geschichten zeigen, dass sie in Gedanken oft ihren eigenen Überzeugungen widersprechen – und sie sich dafür teilweise schämen. Wir haben ihre Gedanken protokolliert und illustriert.

Julia, 30

Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als Teenager andere Frauen angesehen habe. Eine dicke Frau auf dem Bahnsteig isst ein Teilchen. Da braucht sie sich nicht wundern, dass sie dick ist. Eine Frau in kurzen Hosen. Bei der Cellulite würde ich mich das nicht trauen. Komisch ist, dass ich genau vor solchen Bewertungen anderer Menschen Angst habe.

Da braucht sie sich nicht wundern, dass sie dick ist.

Ich bin selbst nicht schlank, habe Cellulite und Angst, im Sommer kurze Hosen zu tragen. Neben sehr schönen Frauen fühle ich mich an schlechten Tagen hässlich. Ich bewerte eher fremde Frauen, meine Freundinnen sehe ich nicht mit solchen Augen. Männer bewerte ich eindeutig weniger oft und weniger streng. Heute habe ich manchmal noch solche Gedanken, aber wenn, dann gehe ich aktiv dagegen an. Ich merke, wie ich von der gesellschaftlichen Norm geprägt bin. Das stört mich und ich will so nicht denken.

© Illustration: Elif Kücük

Nhi, 29

In der U-Bahn habe ich eine junge Frau gesehen, die in ihrem Rucksack wühlte und dann ein kleines Täschchen hervorholte. Unauffällig beobachtete ich, wie sie sich die Wimpern tuschte, danach mit dem Bürstchen über die Augenbrauen ging und sich kritisch im Spiegel betrachtete.

Aus unerklärlichen Gründen fand ich sie unsympathisch.

Ich fand, dass sie zu stark geschminkt war. Ich stellte mir vor, wie ich ihre Make-up-Schicht mit einem Spachtel abkratzte und diese wie gehobelter Käse von ihrem Gesicht abfallen würde. Aus unerklärlichen Gründen fand ich sie unsympathisch. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich mich selbst in ihr gesehen habe. Häufig schminke auch ich mich in der Bahn und fürchte, zu viel aufgetragen zu haben.

© Illustration: Elif Kücük

Sarah, 27

Ich war bei Ikea, wo mir eine Frau Mitte oder Ende 20 auffiel. An der Bushaltestelle sah ich sie wieder. Vollbepackt mit zwei großen blauen Tüten und einem Kinderwagen, der mittlerweile mehr als Einkaufswagen diente. Das erste, was ich in diesem Moment fühlte, war Mitleid.

Niemals will ich eine alleinerziehende Mutter werden.

Warum ist sie mit ihrem Kind um diese Uhrzeit alleine unterwegs? Wo ist der Vater? Wie weit muss sie wohl mit dem Bus fahren, bis sie zu Hause ist? Niemals will ich eine alleinerziehende Mutter werden, war das Fazit. Ob sie tatsächlich alleinerziehend ist, weiß ich nicht mal. Und warum spielt das überhaupt eine Rolle? Anscheinend war meine erste Reaktion, mich von ihr abzugrenzen. Ich werde nie an einem Winterabend an einer Bushaltestelle mit meinem Kind und zwei vollen Tüten warten. Offensichtlich steckt hinter dieser Szene und meinem Urteil mehr, als ich mir in diesem Moment selbst zugestehen wollte.

© Illustration: Elif Kücük

Marjan, 25

Zu meiner Schulzeit nahm ich jeden Morgen denselben Bus. Viele der Mitfahrenden waren Teil meiner Routine. Wir beobachteten uns und wunderten uns stumm, wenn jemand fehlte. Ein Mädchen in meinem Alter fiel mir besonders auf. Sie unterschied sich sehr von mir, aber wir beide hatten eine hervorstehende Nase und ich respektierte sie dafür. Diese Gemeinsamkeit ließ mich glauben, wir stünden uns näher als die anderen.

Sie hatte mich verraten, ich war so beleidigt und dichtete ihr Tausende schlechte Eigenschaften an.

Ich sah sie jedes Jahr erwachsener werden und ich beobachtete mit Neugier, wie sie demnächst ihre Haare tragen würde, welchen Kleidungsstil sie übernehmen würde. Eines Morgens sah ich sie nicht mehr im Bus, aber ich erkannte jemanden, der aussah wie sie. Doch die Nase war anders, ein konformes Produkt chirurgischer Routine. Sie war es doch. Ich war entsetzt, blieb aber stumm. Ich fühlte mich verraten, war beleidigt und dichtete ihr auf Anhieb Tausende schlechte Eigenschaften an.

© Illustration: Elif Kücük

Nadine, 25

Ich achte besonders auf Frauen, von denen ich annehme, dass sie mir ähneln. Wie mein Urteil ausfällt, hängt meistens davon ab wie sehr ich mich selbst gerade mag. Wenn ich selbst nicht zufrieden mit mir bin, ertappe ich mich dabei, dass mein Blick im Café auf die Frau mit dem schönen Lachen am Nebentisch fällt.

Schon ein bisschen übertrieben, ihr Lippenstift.

Ich bemerke, dass der Mann, der ihr gegenüber sitzt, es auch bemerkt und denke: "Die will doch nur seine Aufmerksamkeit" oder "Schon ein bisschen übertrieben, ihr Lippenstift". Je älter ich werde, desto besser kann ich diese hässlichen Gefühle einordnen. Ich weiß, dass sie rein gar nichts mit meiner Umwelt zu tun haben und dass das Neidgefühl nur spiegelt, dass ich wohl mit mir selbst gerade nicht zufrieden bin. "Sie ist umwerfend", sage ich über andere Frauen meistens an Tagen, an denen ich mich selbst auch ein bisschen umwerfend finde. Je besser es mir geht, desto liebevoller kann ich auf andere Frauen blicken.

© Illustration: Elif Kücük

Andere Frauen als Projektionsfläche für sich selbst

Die obigen Geschichten schildern diverse Frauen in unterschiedlichen Situationen. Und doch verbindet sie etwas Grundlegendes: Die Betrachterinnen erkennen sich selbst auf eine Art und Weise in ihrem weiblichen Gegenüber wieder. Emily V. Gordon, die sich ebenfalls in einem Artikel für die  New York Times mit dem Thema beschäftigte, erklärt das so: "Wir konkurrieren letztendlich nicht mit anderen Frauen, sondern mit uns selbst. Für viele von uns ist es so, dass wir eine andere Version von uns selbst sehen, wenn wir andere Frauen anschauen." Sie sagt sogar, dass beobachtende Frauen in solchen Momenten die Beobachteten gar nicht wirklich wahrnehmen. Die anderen Frauen dienen als Projektionsfläche für sich selbst.

Heidi, 35

Die Situation ist ein paar Jahre her und fand in einer Kneipe statt. Ein junger Mann und eine junge Frau dekorierten für Karneval oder ähnliches. Er stand auf einem Hocker und hat mit einem elektronischen Tacker Girlanden befestigt. Auf seine Frage, ob sie auch mal tackern möchte, meinte sie: "Nein, das kann ich nicht, ich bin doch ein Mädchen." Ich habe mich in dem Moment fürchterlich über die junge Frau aufgeregt und nur gedacht, dass jahrzehntelange Emanzipation wohl bei manchen einfach umsonst waren.

Nein, das kann ich nicht, ich bin doch ein Mädchen.

Ich habe schon früh gelernt, unabhängig zu sein. Doch habe ich die Frau verurteilt, ohne zu überlegen, ob sie nicht einfach Angst hatte sich zu blamieren oder vor der Höhe. Ich versuche eigentlich so wenig wie möglich zu urteilen, aber zwischendurch kann es doch vorkommen.

© Illustration: Elif Kücük

Miiko, 22

Ich neige dazu, von Frauen fasziniert zu sein, die in ihrer physischen Erscheinung auffällig sind; seien es Kleidungsstile, Körperbehaarung oder Stimmen. Dies gilt insbesondere für gleichaltrige Personen. Es geht um die Lesbarkeit von Weiblichkeit. Ich bin fasziniert von Brüchen mit stereotypen Erwartungsbildern. Einerseits spreche ich innerlich Befürwortung, Unterstützung und Bewunderung aus, mache mir oftmals auch Sorgen um die Person. Andererseits ekele ich mich selber damit an, dass ich überhaupt eine Auffälligkeit in dieser Person gesehen habe.

Ich bin fasziniert von Brüchen mit stereotypen Erwartungsbildern.

In solchen Situationen bestätigt sich der Einfluss von tief verankerten Geschlechterbildern, ihre ekelhafte Zweigleisigkeit, die lediglich Raum für Cis-Weiblichkeit und -Männlichkeit bietet und alles jenseits dessen kann nicht kommentarlos hingenommen werden.

© Illustration: Elif Kücük

Helen, 31

Wenn ich in einem Café sitze, ertappe ich mich ab und zu dabei, wie ich Gespräche von Tischnachbarinnen mithöre und beobachte. Ich urteile dann schnell über den Inhalt von Gesprächen. Im Anschluss werfe ich einen Blick auf die sprechenden Damen und denke "Ja genau, dieses Aussehen habe ich mir zu diesem Gesprächsstoff erwartet!" Ganz besonders sensibel bin ich bei Dramaqueens. Dieser Typ Mensch ist so gar nicht mein Fall. Ich erkenne die Dramaqueen an ihrer Mimik, die sehr vielseitig in jedem Fall auch völlig überzogen ist. Natürlich ist das nur ein Vorurteil von mir.

Ja genau, dieses Aussehen habe ich mir zu diesem Gesprächsstoff erwartet!

Genauso habe ich Vorurteile Frauen gegenüber, die zu geschniegelt aussehen, bei denen die Ohrringe zu den Schuhen passen und die Bluse perfekt in die Slim-cut-Jeans gesteckt ist. Das ist mir unheimlich und ich würde mit so einer Dame niemals ein Gespräch beginnen. Am meisten schäme ich mich dafür, dass ich diese Vorurteile habe, obwohl ich von mir selbst behaupte, ein weltoffener, toleranter Mensch zu sein.

© Illustration: Elif Kücük

Theresa, 22

Ich beobachte so ziemlich die ganze Zeit über andere Frauen – und urteile über sie. Speziell wenn ich in der Stadt unterwegs bin, achte ich besonders darauf, was sie anhaben und wie sie sich geben. Ob sie selbstbewusst sind in dem, was sie tragen oder ob sie sich doch unsicher fühlen in einer Art und Weise. Wenn ich merke, dass ein Mädchen viel Selbstbewusstsein hat, schüchtert mich das eher ein. Wenn es ein Mädchen ist, das wenig Selbstbewusstsein zu haben scheint, ist sie mir entweder egal oder ich fühle mich ihr überlegen.

An denen gehe ich hochnäsig vorbei.

Hin und wieder gibt es die Art Mädchen, denen ich ein Kompliment ausspreche. Einfach weil ich ihr den Tag verschönern möchte. Zusätzlich gibt es noch die Art Mädchen, die glauben, sie sind was besseres als ich, aber dann Fünf-Euro-Leggings mit Blumenprint tragen und eine Fake-Lederjacke vom New Yorker mit gefühlten 1.000 Nieten und Reißverschlüssen. An denen gehe ich hochnäsig vorbei.

© Illustration: Elif Kücük

Gül, 26 Jahre alt

Ich lief durch die Fußgängerzone der Kleinstadt, in der ich aufwuchs und zur Schule gegangen bin. Normalerweise wurde ich angestarrt. Diesmal starrte ich. Das Mädchen, das meinen Blick auf sich zog, musste so alt sein wie ich. Wir trugen den gleichen Schal, beide einen schrägen Pony, sahen ein bisschen alternativ aus.

Normalerweise wurde ich angestarrt. Diesmal starrte ich.

Es braucht in dieser Gegend nicht viel, um alternativ zu wirken. Trotzdem gab es so wenige Gleichgesinnte, dass so kleine Details ausreichten, um eine Identifikationsschablone zu finden. Als wir aneinander vorbei waren, drehte ich mich nach ihr um – sie tat das gleiche und unsere Blicke trafen sich. Wir lachten uns an. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Es war eine der wenigen Begegnungen in dieser Straße, die ein Gefühl der Verbundenheit hinterlassen haben.

© Illustration: Elif Kücük

Gnädig mit sich selbst sein

Diese zehn Geschichten verdeutlichen, dass eigene Unsicherheiten Urteile über Frauen maßgeblich beeinflussen können. Güls Erinnerung aus der Schulzeit zeigt jedoch, dass Unsicherheiten durch das gegenseitige Anschauen auch gemindert werden können. Doch was ist der richtige Umgang mit den negativen Bewertungen, dem Blick für die vermeintlichen Fehler und Schwächen der anderen? Sarah Riley glaubt, dass Feministinnen selbstverständlich den Wunsch hätten, Konkurrenzgedanken hinter sich zu lassen, zufrieden zu sein mit ihrem Aussehen. Doch auch sie seien nun mal Teil einer Kultur, die patriarchal und von stereotypen Geschlechterbildern geprägt sei.

"Ich glaube, der erste Schritt für Feministinnen, die sich dabei ertappen, ist, gnädig mit sich selbst zu sein und nicht überrascht, dass sie genau wie andere Frauen auch sind", sagt Riley. "Es ist okay, diese Dinge zu fühlen, selbst wenn wir ihnen nicht zustimmen. Danach können wir anfangen damit zu experimentieren und Dinge anders zu machen."

*Die Namen aller Protagonistinnen wurden geändert