Über die Vagina kursieren viele Geschichten. Diese Geschichten sind manchmal nett, öfter gemein. Nach dem Sex werden sie erschöpft in Ohren geflüstert, erstaunt in großer Runde zum Besten gegeben oder mit Besorgnis am Küchentisch verhandelt.

Diese Geschichten beschreiben ganz selten einfach nur ein Organ. Denn geht es um die Vagina, geht es auch immer um die Frau drumherum, geht es immer auch um Sex. Geht es um gut oder schlecht, um abschätzig oder anerkennend.

Nehmen wir doch einfach mal zwei solcher Geschichten. Zuerst die von Anne.

Es war Sommer, sie und ich lagen vor der Uni auf einer Wiese, Gesichter in der Sonne und Anne berichtete von Max. Genauer: dem Sex mit Max. "Und als er dann fertig war, hat er mir ins Ohr geflüstert wie eng ich doch sei. ,Du bist total eng, das ist richtig geil.'", Anne kicherte, "Und das hat mir geschmeichelt, stell dir das mal vor! Seitdem frage ich mich allerdings, ob ich untenrum irgendwie Wonder Woman bin. Meinst du, ich könnte das als Anmachspruch gebrauchen: ,Wenn du wüsstest, wie eng ich bin …'" "Na, unbedingt!", sagte ich. Wir lachten.

Nun die Geschichte von Emily. Emily war uns vor der U-Bahn entgegengekommen: "Gut, dass ich euch treffe. Ich brauche dringend einen Tampon. Habt ihr einen?" Meine Freundin Jana drückte Emily einen in die Hand: "Normal?! Hast du nicht größer?",Emily schaute entschuldigend, "Ich brauch Super Plus." Jana zuckte mit den Schultern und Emily zog "Alles klar, aber danke" rufend von dannen. Jana schaute mich sehr besorgt an: "Super plus! Mist, dann ist die ja schon total ausgeleiert."

Eng oder ausgeleiert

Diese Anekdoten haben etwas gemein: Sie beschreiben nicht nur, sie werten. Sie erzählen etwas über die Qualität von Sex und über das Ansehen einer Frau. Motto: eng gleich geil. Ausgeleiert gleich ojemine. Enge ist frisch und sexy, eine weite Vagina gerüchteweise ein Zeichen von zu viel Sex mit zu vielen Männern. Oder vom Kinderkriegen. Weder frisch noch sexy also. Ein vermaledeites Schicksal. Wer schon mal einen ausgeleierten Hosenbund retten wollte weiß, dass das nur durch Komplettaustausch klappt. Wie gesagt. Ojemine.

Vaginen sollen bitte eng sein. Was den Männern der große Penis, ist den Frauen die schmale Scheide. Diese vermeintliche Norm lebt in Geschichten fort und in den Köpfen von Frauen, die sich sorgen und womöglich schämen. Doch diese Geschichten haben noch etwas anderes gemeinsam. Sie sind völliger Quatsch.

Wenig Wissen führt zu Vorurteilen

Carla Thiele ist Ärztin und Sexualtherapeutin. Sie kennt die Ängste von Männern und Frauen um ihr Untenrum nur zu gut: "Das Problem ist, dass Männer als auch Frauen relativ wenig über die Vagina wissen", erklärt sie mir. Das mag überraschen, würde man doch reflexartig eher Männern hier Unkenntnis unterstellen. Doch tragischerweise sind es eben gerade Frauen, für die die eigene Vagina oft ein Mysterium ist.

"Würde man 100 heterosexuelle Paare fragen, wie die Vagina der Frau aussieht, wüssten es meistens die Männer besser als die Frauen selbst. Frau kann ja nicht so einfach hinschauen. Deshalb ist es auch heute nicht selten, dass sich selbst Frauen mit ihrer Vagina nicht auskennen und auch leider oft diesen Teil ihres Körpers verstecken, aus Angst, dort nicht ,schön genug' zu sein."

Nicht eng genug ist gleich nicht schön genug

Wer sich ob der ganzen Geschichten um die Enge sorgt, hat zudem eine sehr heteronormative Vorstellung von Sex. Denn die Sorge um die Enge ist an Geschlechtsverkehr gekoppelt. Penis in Vagina. Die vermeintliche Königsdisziplin des Sex. Und damit wird nicht nur eine Idee des richtigen Sex vermittelt, sondern auch festgelegt, wie der Penis zu stimulieren ist. Irgendwie eng eben. "Das ist wie beim Hype um den Analverkehr: hauptsache eng", erklärt Carla Thiele.

Wer sich um die Enge sorgt, hat eine sehr heteronormative Vorstellung von Sex."

Hauptsache eng. Und heterosexuelle Männer wie Frauen stricken fröhlich an dieser Mär, als ließe sich dadurch die Besorgnis um den guten Sex beiseite schieben. Denn wer weiß, was vorgeblich richtig ist, kann ja nichts falsch machen. So die Hoffnung. Aber vielleicht noch eine Anekdote. "Ich hatte ein Praktikum im Studium, wo eine Gynäkologin einen Dammschnitt genäht hat. Als sie den letzten Stich setzte, drehte sie sich um und sagte zu uns: ,Der ist für Vati'. Daran sieht man eben, dass der Mythos der Enge von beiden Seiten genährt wird", erzählt Carla Thiele. Vati freut sich, wenn Mutti nach der Geburt wieder als intakte Frau im Bett liegt. Und Mutti freut sich, wenn sie glauben darf, dass alles schön eng ist.

Die enge Scheide ist ein Mythos

Dabei handelt es sich bei dieser Enge-Gläubigkeit um einen Mythos. Denn eine Vagina muss mitnichten hauptsächlich eng sein. Und sie ist es auch nicht: "Es gibt keine enge Scheide. Sie ist weit und dehnbar und das ist auch gut so. Was die Enge ausmacht, ist die Beckenbodenmuskulatur, und die ist je nach Konstitution straff oder weniger straff, wie andere Muskeln auch", führt die Medizinerin aus.

Die Vagina ist kein statisches Gefäß, kein mysteriöser Schlauch, der nur darauf wartet, ausgefüllt zu werden. Der Beckenboden entscheidet über Enge und Weite er kann an- und entspannen. Und entspannen sollte er unbedingt, denn wer zu stark angespannt ist und verkrampft, kann Schmerzen bei der Penetration haben: "Viele denken, dass der Beckenboden straff sein muss, dabei tut es eher weh, wenn es zu straff ist. Bei Sexualität geht es um einen Wechsel von An- und Entspannung. Wenn man nicht entspannt ist, macht es auch keinen Spaß."

Die enge Vagina gibt es also nicht. Das ist doch mal eine Geschichte, von der es sich lohnt, sie weiter zu erzählen.