Manche Menschen brauchen nicht viele Freund*innen, um glücklich zu sein. So wie Marie, die ich jetzt schon seit der Schulzeit kenne. Wir treffen uns etwa zweimal im Jahr, haben immer etwas zu lachen und erzählen uns alles – sie gehört zu meinen ältesten Freund*innen und ich zu ihrem winzig kleinen Freundeskreis. Marie ist einer dieser Menschen, die es bevorzugen, in manchen Situationen lieber allein statt in schlechter Gesellschaft zu sein. Dafür bewundere ich sie – Marie ist nie einsam, sondern hat einfach gelernt, sich auf die Personen zu konzentrieren, die ihr guttun, auch wenn das nur wenige sind.

Warum neigen aber trotzdem so viele Menschen dazu, sich die Beziehung zu manchen Freund*innen schönzureden? Und weshalb kann das auch ziemlich ungesund sein? Genau diese Fragen stellte ich Expert*innen, die es wissen müssen: Menschen, die sich als Freundschaftsforscher*innen, Buchautor*innen oder Psycholog*innen täglich mit dem Thema Freundschaft auseinandersetzen. Sie haben mir erklärt, warum wir uns manchmal lieber dem schönen Schein hingeben, statt ehrlich zu sein und kriselnde Freundschaften bewusst infrage zu stellen.

Wenn das Gefühl von Verpflichtung dominiert, läuft etwas falsch

Wir alle brauchen Freund*innen in unserem Leben, die uns im Alltag begleiten, in schwierigen Situationen beistehen und mit denen wir einfach Spaß haben, reden, lachen können. Zu einer wirklich guten Freundschaft gehört aber eigentlich noch viel mehr: Man vertraut und respektiert sich, genießt die Zeit miteinander und ist immer für den anderen da.

Wahre Freundschaft wird freiwillig eingegangen und schafft dennoch Verbindlichkeit.

Für Ina Schmidt, die als Buchautorin und freie Philosophin in der Nähe von Hamburg lebt und arbeitet, gibt es noch einen weiteren wichtigen Punkt, der für sie eine wahre Freundschaft ausmacht: "Sie wird freiwillig eingegangen und schafft dennoch Verbindlichkeit. Die Freundschaft wird nicht als Pflicht empfunden und besteht um ihrer selbst willen."

Sobald in einer Freundschaft das Gefühl der Verpflichtung dominiert, läuft hingegen etwas falsch. Wenn Erwartungsdruck und ein übersteigertes Verantwortungsgefühl im Vordergrund stehen, deutet das klar auf eine Freundschaft in der Krise hin, so Ina Schmidt: "Wenn man vom anderen abhängig ist, kann das keine Freundschaft mehr sein. Dann geht es in diesen Beziehungen nicht mehr um den Freund als menschliches Gegenüber, sondern um das Stillen eigener Bedürfnisse." Trotzdem passiert es in solchen Situationen häufiger als man denkt, dass die Freundschaft noch ewig weiterläuft und sogar schöngeredet wird, obwohl sie schon längst kriselt – warum ist das so?

Schönreden als Selbstschutz

Dass wir uns enge Beziehungen zu unseren Mitmenschen gerne schönreden, ist eines der größten Talente des Menschen. Denn außerhalb dieser verklärten Wirklichkeit gibt es unangenehme Entscheidungen und schwierige Gespräche, denen man sich manchmal lieber entzieht, statt auf Konfrontationskurs zu gehen.

Häufig spielen hier egoistische Beweggründe eine Rolle, die zum Schönreden verführen. Der Kölner Diplom-Psychologe Peter Groß hat immer wieder mit Menschen zu tun, die bewusst die Augen vor Problemen mit Freund*innen verschließen: "Wenn man nur wenige Freunde hat, überlegt man es sich gut, ob man eine Freundschaft aufs Spiel setzt, indem man sie bewusst hinterfragt und einen Konflikt oder sogar Bruch riskiert."

Viele Menschen haben schlichtweg Angst davor, allein zu sein und trauen sich deshalb nicht, Probleme in Freundschaften direkt anzusprechen. Wer einen großen Freundeskreis hat, macht öfter den Mund auf, als jemand, der die engsten Vertrauten an einer Hand abzählen kann. Auch die Verbindung zu einer gemeinsamen Clique kann Menschen daran hindern, eine schwierige Freundschaft zu hinterfragen und offen über Probleme zu sprechen, bestätigt Peter Groß: "Dann nehmen diese Menschen meist lieber den Frust in Kauf, als später allein dazustehen und den Kontakt zur Clique zu verlieren."

Sich verstellen und nichts riskieren

Wer sich Freundschaften lieber schönredet, verstellt sich also und sagt nicht, wenn er sich unwohl oder unzufrieden in der Gegenwart des anderen fühlt. Das kann zu ziemlich negativen Gefühlen führen und aus einer kriselnden Freundschaft eine völlig kaputte machen. Denn eines ist klar: Auf Dauer kann es nicht funktionieren, wenn man sich von einem*r Freund*in abhängig macht, auf den*die man eigentlich gar keine Lust mehr hat.

Erwachsen ist ein solches Verhalten schon gar nicht. Denn wie eine Beziehung muss ja auch eine Freundschaft sowohl durch angenehme als auch durch turbulente Zeiten gehen. Das hilft, sich selbst und den*die andere*n besser kennenzulernen, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Wer aber einfach zu Beginn einer Krise auf Pause drückt und stattdessen auf Friede, Freude, Eierkuchen macht, wird nach einiger Zeit Bauchschmerzen bekommen, sagt auch der Freundschaftsforscher und Autor Wolfgang Krüger aus Berlin: "Dann spürt man, dass diese Begegnungen eher eine Belastung sind." Wie findet man also einen Weg raus aus dieser heilen Welt, die man sich selbst erschaffen hat?

Ehrlich sein und etwas ändern

Die Autorin Ina Schmidt ist überzeugt, dass sich Menschen zunächst über dieses Schönreden bewusst werden müssen, um etwas zu ändern: "Die wichtigste Frage in einer solchen Situation ist doch: Warum tue ich das gerade? Was rede ich mir hier schön und was würde passieren, wenn ich es sein lasse?" Wenn man sich selbst ehrliche Antworten liefere, sei dies bereits der erste Schritt, um überhaupt herauszufinden, wie es weitergehen soll, so Schmidt. Das kann zum einen natürlich das offene Gespräch sein – wenn noch genügend Freundschaft übrig ist und man davon überzeugt ist, dass die Probleme gelöst werden können.

Zum anderen kann das aber auch das Ende einer Freundschaft bedeuten und das muss auch kein Weltuntergang sein, findet der Autor Martin Hecht: "Über Freundschaften zu sprechen, ist grundsätzlich nicht verkehrt, um Missverständnisse aufzudecken. Wenn man aber davon überzeugt ist, dass sich die Freundschaft nicht nur in einer Krise befindet, sondern am Ende ist, sollte man auch ehrlich sein und getrennte Wege gehen."

Für Hecht ist das eine logische Konsequenz, die manchmal auch einen positiven Ausgang zur Folge haben kann: "Eventuell tut der Abstand gut und man hat irgendwann wieder Spaß miteinander. Oder man merkt, dass es endgültig vorbei ist – das kann eben auch eine unheimliche Erleichterung sein und ist definitiv gesünder als jedes Schönreden."