Ich habe mich neulich selbst ertappt. Ausmisten wollte ich, meinen Kleiderschrank auf ein Minimum reduzieren. Denn der ist voll mit Klamotten, die dort seit Monaten, nein, wohl eher seit Jahren vor sich hinvegetieren – zu klein, zu groß, Fehlkäufe und auch mein Geschmack beziehungsweise die Mode hat sich geändert.

Allerdings ist das mit dem Ausrangieren eher nicht so mein Ding. Statt den alten Jeans, Shirts, Pullis und Co Adieu zu sagen, fing es in meinem Kopf an zu rattern: "Hach, das hatte ich immer in Studi-Zeiten an!", "Das kann ich doch nicht so einfach weggeben!" Und bevor ich mich entsinnen konnte, wanderte ein Teil der Kleidungsstücke dorthin zurück, wo sie auch die letzten Monate herumlagen – in meinen Schrank.

Kleiderschrank hin oder her

Das Dilemma ist eine wunderbare Metapher für viele andere Situationen, die wir alle kennen – die schwierige Beziehung, der belastende Job oder diese eine nervige Gewohnheit. Eigentlich wollten wir sie längst hinter uns lassen, abschütteln, ad acta legen. Doch das ist um einiges leichter gesagt als getan – wir Menschen sind schließlich Gewohnheitstiere. "Neue Wege sind uns fremd, erscheinen unsicher oder vielleicht sogar beängstigend. Deshalb ist der Mensch so strukturiert, dass, wenn er einmal etwas gemacht hat, auch dabeibleibt", erklärt die Würzburger Diplom-Psychologin Christine Lübbeke.

Der Mensch ist so strukturiert, dass, wenn er einmal etwas gemacht hat, auch dabeibleibt." – Christine Lübbeke

Statt den langweiligen Job mit dem cholerischen Chef endlich an den Nagel zu hängen, verharren wir also lieber in der Situation. Ein neuer Arbeitsplatz würde schließlich alles ändern – den*die Chef*in, die Kolleg*innen, das Umfeld, die Aufgaben, vielleicht sogar die Stadt. Ein Schritt ins Ungewisse sozusagen, der irgendwie ein beklemmendes Gefühl mit sich bringt. Ein Gefühl, das letztendlich oftmals dafür sorgt, dass die Kündigungspläne auf der Strecke bleiben. Sicher ist schließlich sicher. Oder, wie es der amerikanische Motivationspsychologe Eric Klinger formulierte: "Das Loslassen von Wichtigem kommt einem psychischen Erdbeben gleich."

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Loslassen ist eine Frage des Lernens

Die Erklärung für diese Problematik liegt mitunter in unserer Kindheit. Für Babys ist Bindung als biologisch verankertes Grundbedürfnis unverzichtbar. Sie brauchen ihre Eltern, die sie versorgen und beschützen. Das mit dem Loslassen hingegen wird uns nicht in die Wiege gelegt. Wir sind von klein auf Klammeraffen und müssen es erst erlernen – durch Erfahrungen, Erkenntnisse oder Situationen, die uns gar keinen anderen Weg ermöglichen. Sprich, die Trennung von deinem*r Ex, die zwar alles andere als einfach war, aber letztendlich das Beste war, dass du tun konntest. Der Umzug von Karlsruhe nach Hamburg, der dich und dein Leben in neue, unerwartete Bahnen katapultiert hat. Oder dieses Studium, das sich als totaler Flop herausgestellt hat. All unsere Erlebnisse beeinflussen nachhaltig, was wir tun – oder eben auch nicht.

Wir alle sehnen uns nach einem sicheren Hafen, vor allem bei einem Sprung aus unserer Komfortzone." – Christine Lübbeke

Einen weiteren wichtigen Faktor spielt hier auch das Thema Sicherheit. "Wir alle sehnen uns nach einem sicheren Hafen, vor allem bei einem Sprung aus unserer Komfortzone. Im Idealfall stellt sich diese Sicherheit auch auf mehrere Beine – die Unterstützung von Familie und Freunden, Erfahrungen von anderen Personen sowie natürlich den Glauben an sich selbst", meint Lübbeke weiter.

Was ist mir wichtig? Wo will ich hin?

Was ist es aber nun, dass uns dazu bringt, etwas loszulassen? "Ein Diskomfort, der so stark ist, dass wir den unumgänglichen Wunsch verspüren, etwas in unserem Leben zu verändern", weiß Lübbeke. "Zudem hat es sehr viel mit dem eigenen Leidensdruck zu tun, ob ich wirklich etwas anpacke und verändere – oder nur darüber nachdenke!" Apropos nachdenken. Auch das ist beim Loslassen absolut unabdingbar. Was ist mir wichtig? Wo will ich hin? Und warum habe ich bisher eigentlich noch nichts geändert? Fragen über Fragen, die dabei helfen, eine Momentaufnahme zu erstellen, um so den richtigen Weg auszuloten. Allerdings bringt es nichts, jede Entscheidung zig Tausende Male im Kopf zu durchdenken. Das Tun ist das Entscheidende.

Veränderungen müssen dabei keine großen, einschneidenden Cuts sein. Schließlich sind die wenigstens von uns unerschrockene Mac-Gyver-Typen, die sich von einer unvorhersehbaren Situation in die nächste stürzen. Muss auch nicht. "Loslassen geht meist nicht von heute auf morgen. Es macht Sinn, Stück für Stück abzustecken, wo es hingehen soll. Ein Rantasten an die Veränderung sozusagen", sagt Lübbeke. Schließlich könne man nicht etwas Grundlegendes verändern und dann erwarten, dass das Leben plötzlich besser ist. Vielleicht ist es sogar erst mal schwieriger. Oder um noch einmal den Motivationspsychologen Klinger zu zitieren: Den großen Schatz, den das Loslassen womöglich zutage fördert, können wir erst erkennen, wenn sich die dabei aufgewirbelte Staubwolke wieder gelegt hat.