Stell dir vor, ein Mann mittleren Alters greift sich plötzlich an die linke Brust, verkrampft den linken Arm, ihm bricht der Schweiß aus. Das Atmen fällt ihm schwer, vielleicht verliert er den Halt und stürzt. Es ist eine bekannte Szene, gern genutzt, um Überarbeitung und Stress in Filmen darzustellen: der männliche Herzinfarkt. Das erscheint logisch, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in Deutschland die häufigste Todesursache bei Männern.

Und bei Frauen? Ebenfalls. Es ist nur weniger bekannt. Weniger bekannt ist auch, dass Herzinfarkte bei Frauen häufig ganz anders aussehen – auf der Leinwand wird das übrigens so gut wie nie verarbeitet. Ein Herzinfarkt bei einer Frau zeigt sich oft ohne Anzeichen des typischen Brustschmerzes, häufig sind erkrankte Frauen von Übelkeit und Oberbauchschmerzen betroffen, manchmal auch von anderen unspezifischen Symptomen, die auch von Erkrankten selbst erst spät ernst genommen werden.

Kampagne machte Mediziner*innen auf Unterschiede aufmerksam

Inzwischen würde wohl zumindest ein Großteil der Mediziner*innen eine Frau mit bestimmten Indikatoren und den oben genannten Symptomen auf einen Herzinfarkt untersuchen. Dass dieses Wissen in der Fachwelt heute verhältnismäßig weit verbreitet ist, ist unter anderem wohl einer Aufklärungskampagne von 2006 / 2007 zu verdanken. Unter der Leitung von Vera Zagrosek wurden damals Flyer gedruckt und verbreitet, um Ärzt*innen sowie Bevölkerung über Herzinfarkte speziell bei Frauen aufzuklären. Zagrosek forscht an der Berliner Charité zum Thema Gender in Medicine. Die Erforschung von Medikamenten ergab beispielsweise, dass Herzmedikamente, die das Leben von Männern verlängerten, bei Frauen die Sterblichkeitsrate erhöhten.

Es geht jedoch nicht nur um Herz-Kreislauf-Krankheiten. Die Geschlechterunterschiede bei vielen Erkrankungen sowie bei der Verarbeitung von Medikamenten im Körper entstehen durch Hormone und Gene, die die Zellen weiblicher und männlicher Körper unterschiedlich prägen.

Obwohl das der Forschung bewusst ist, werden heute weiterhin Medikamente zumeist nur an männlichen Mäusen entwickelt und zuerst an jungen Männern getestet. Die Begründung von Pharmaindustrie und Forschungsgesellschaften: Weibliche Mäuse und so auch Frauen seien aufgrund ihres Zyklus' zu kompliziert zu untersuchen. Außerdem könnten Frauen schwanger sein.

Anschließend folgen Studien, die die eigentliche Zielgruppe einschließen sollen. In diesen Studien sind Frauen aber unterrepräsentiert. Eine geschlechtsspezifische Analyse von Wirkung und Nebenwirkungen bleibt meistens vollkommen aus – so stellen nur etwa zehn Prozent der Berichte über neue Medikamente die Nebenwirkungen für Frauen und Männer getrennt dar. Diese geschlechtsspezifischen Analysen sind zwar in Deutschland und international erwünscht, Pflicht sind sie aber nicht. So bildet der männliche Körper mit seinen Symptomen und seiner Verarbeitung von Medikamenten immer noch zu großen Teilen den Maßstab für alle Menschen, obwohl neue Studien klar zeigen, dass Frauen und Männer nicht nur unterschiedliche Dosierungen benötigen, sondern gar manche Medikamente nur bei einem Geschlecht wirken.

Zagrosek setzt sich seit etwa 15 Jahren aktiv dafür ein, die Medizin geschlechtssensibel zu gestalten. Dabei geht es jedoch um noch mehr als eine angepasste Medikamentenanalyse und Diagnostik, erklärt sie im Interview.

ze.tt: Vera Zagrosek, was bedeutet geschlechtssensible Medizin?

Vera Zagrosek: Geschlechtssensible Medizin berücksichtigt die biologischen und soziokulturellen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Diagnose, Therapie und Prävention. Das heißt, es geht nicht nur darum, wie Medikamente wirken, sondern auch um das geschlechtergeprägte Gesundheitsbewusstsein.

Was ist damit gemeint?

Frauen tendieren nach wie vor dazu, sich weniger um ihre eigene Gesundheit zu kümmern als um die Gesundheit ihrer Familie. Auch moderne Frauen wissen wenig über die eigene Gesundheit und nehmen Symptome weniger ernst. Aber auch Männer sind bei bestimmten Krankheitsbildern unterdiagnostiziert, zum Beispiel Depressionen. Das ist eben immer noch keine angesehene Krankheit bei Männern. Suizid ist hier weiter verbreitet. Durch die einseitige Forschung kommt es zu falschen Diagnosen, lange unbehandelten Herzinfarkten und der Gabe unpassender Medikamente. Wir wollen, dass Frauen und Männer optimal behandelt werden, ganzheitlich und mit Rücksicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse.

Seit wann gibt es geschlechtssensible Medizin?

In den USA wurde in den 90er-Jahren festgestellt, dass Frauen bei klinischen Studien und in der Arzneimittelentwicklung unterrepräsentiert waren. Daraus folgte eine eher frauenorientierte Medizin. Anfang 2000 haben dann einige Kolleginnen und ich den Begriff Gendermedizin begründet, um sachlich festzustellen, wo Frauen und Männer eine andere Medizin benötigen und wie eine geschlechtssensible Medizin strukturiert werden muss. 2006 / 2007 starteten wir dann eine Aufklärungskampagne zum Thema Herzinfarkt bei Frauen. 2007 / 2008 gründeten wir die internationale und die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtssensible Medizin. Diese bemühen sich, eine Wissensbasis zu schaffen.

Was hat sich seitdem geändert?

Das Bewusstsein für Unterschiede ist gestiegen, wir haben eine größere mediale Aufmerksamkeit. Dabei geht es nicht nur darum, dass Symptome unterschiedlich sind, sondern eben auch darum, dass Frauen und Männer sich als Patient*innen unterschiedlich verhalten und Ärzt*innen das wissen müssen, damit sie die richtigen Diagnosen stellen können. Aber: Es gibt in Deutschland trotz aller Erkenntnisse der letzten Jahre nach wie vor keine Richtlinien, dass Medikamente geschlechtssensibel erforscht werden müssen, wie es in den USA und Kanada bereits der Fall ist. Dort können keine Arzneimitteltestungen zur Förderung mehr vorgeschlagen werden, die nur an männlichen Mäusen durchgeführt werden, da werden Sie direkt gefragt, ob sich die Ergebnisse denn wirklich auf alle Gruppen in der Gesellschaft oder nur auf Männer übertragen lassen und warum keine Daten zu Frauen erhoben werden. Bei der Deutschen Forschungsgesellschaft gelten solche Fragen als unwissenschaftlich. Auch die Fachgesellschaften für bestimmte Krankheitsbilder marginalisieren das Problem. Hier herrscht oft nur ein minimales Problembewusstsein.

Was muss getan werden, damit sich das ändert?

In der Ausbildung muss geschlechtssensible Medizin einen festen Platz bekommen. Derzeit steht Gendermedizin, das heißt sex- und gendersensible Medizin, nur an einer medizinischen Fakultät in Deutschland in der Pflichtlehre. Das Wissen muss weiter unter die Leute gebracht werden. Außerdem müssen die Strukturen verändert werden. Fachgesellschaften sind nach wie vor sehr männerdominiert – in der Deutschen Fachgesellschaft für Kardiologie saß zum Beispiel noch nie eine Frau im siebenköpfigen Vorstand. Obwohl 70 Prozent der Medizinstudierenden inzwischen weiblich sind. Auch die Gesundheitspolitik muss anfangen, den Unterschied ernst zu nehmen. Frauenspezifische Probleme werden kleingeredet. Für die eigene Gesundheit ist es besonders wichtig, dass Patientinnen beim Arztbesuch nachfragen: Wurde das Medikament auch an Frauen getestet? Benötige ich eine andere Dosierung? Das erfordert aber auch das Vorhandensein des Wissens über Unterschiede und die Anerkennung des Problems durch die behandelnden Mediziner*innen.

Systemisches Problem

Es zeigt sich, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht nur historisch von Männern für Männer gemacht ist, sondern sich die Ungleichheit trotz aller Erkenntnisse reproduziert. 2018 wurde zwar erstmals Forschungsgeld in Höhe von 3,5 Millionen Euro für den Förderschwerpunkt Geschlechtsspezifische Besonderheiten in der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung bereitgestellt; das gesamte Forschungsbudget beträgt 123,8 Millionen Euro.

Geld für Forschung allein reicht jedoch nicht: Letzten Endes kann auch die deutsche Medizin nur dann gerecht und ganzheitlich werden, wenn Politik und Wissenschaft das Problem anerkennen und die notwendigen Strukturen schaffen – Kanada und die USA haben das ja bereits geschafft.